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Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt

Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt

Titel: Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dario Castagno
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täglichen Leben zu erklären. Um das zu verstehen, muss man in Siena geboren sein und das Leben in der contrada mitleben, denn der Palio ist nicht einfach ein Pferderennen, das am 2. Juli und am 16. August stattfindet, auch wenn an diesen Daten die Gefühle am stärksten und die Auswirkungen am größten sind. Nein, der Palio ist nur der sichtbarste Ausdruck von Vereinigungen und Traditionen, die im Leben von Siena den Rhythmus bestimmen und den Ton angeben. Sogar ich als Mitglied der Noblen contrada der Raupe wundere mich immer wieder, wie viel Zeit die contrada aufwendet, um Versammlungen, Abendessen, Feste, Wettbewerbe und Anlässe für die Kinder und die älteren Leute zu veranstalten. Wenn dann im Sommer ein Sieg zu feiern ist, sind dazu größte organisatorische Fähigkeiten, Fantasie, Begeisterung, harte Arbeit und bedeutende Geldinvestitionen erforderlich.
    Der einzige Weg zu einem ersten Verständnis des Palios ist, selbst daran teilzunehmen, ein paar Tage vor dem Rennen in Siena zu verbringen, am Leben in der Stadt teilzuhaben und zu spüren, wie die Aufregung sich bis zum Wahnsinn steigert. Ich versuche immer wieder, meine Kunden so stark wie möglich an den vorbereitenden Etappen teilhaben zu lassen. Wir gehen zusammen zur Auslosung der Pferde, zu den Proben und den Abendessen, damit sie die Begeisterung mitempfinden und die Spannung zu spüren bekommen, die dem Ereignis vorausgeht. Meistens sind sie derart beeindruckt und werden von der Sache so mitgerissen, dass sie immer wiederkommen.
    Dem Millionär aus Texas, der mich mitten in der Nacht anrief und überzeugt davon war, dass all das als Geburtstagsgeschenk für seine Frau gekauft werden könne, antwortete ich einfach: »Ich bedaure, Palio-Veranstaltungen sind nicht mein Spezialgebiet. Versuchen Sie es bei einer anderen Agentur.« Ich überließ es ihm herauszufinden, bei welcher, und legte mich schlafen.
    Und ich träumte, dass die Raupe den nächsten Palio gewinnt.

Alle gegen alle
     
    Schon in einigen vorhergehenden Kapiteln wurde über verschiedene Rivalitäten berichtet. Ich kann mir vorstellen, dass es für einen Fremden schwierig ist, die regionalen Feindseligkeiten in unserem Land zu verstehen, besonders wenn die Idee vorherrscht, Italien sei seit Jahrtausenden eine geeinte Nation. Tatsache ist, dass Italien erst 1860 vereint wurde, von Garibaldi, unserem ersten Nationalhelden, der nicht prophetischer hätte sein können, als er sagte: »Ich habe Italien geschaffen, jetzt schaffe einer die Italiener!«
    Bisher ist das keinem gelungen. Mussolini kam dem sehr nahe und vermittelte uns beinahe zwanzig Jahre lang ein kraftvolles Gefühl der Einheit, aber nach seinem unrühmlichen Ende zerrann dieses Gefühl wie Schnee in der Sonne.
    Für ein kleines Land umfasst Italien viele stark unterschiedliche geografische und klimatische Gebiete, welche natürlich zu großen Unterschieden in der Bevölkerung der in den verschiedenen Himmelsrichtungen liegenden Gegenden führen. Wenn wir als zufälliges Beispiel je einen Bewohner der beiden am weitesten auseinander liegenden Gebiete betrachten, wundern wir uns nicht darüber, dass der aus dem Norden blond ist, helle Augen hat, Würste und Sauerkraut isst, Bier und Grappa trinkt, Deutsch spricht und in den Bergen lebt, wo sechs Monate im Jahr Schnee liegt. Heißen wird er Kurt, Gustav, Heidi oder Gerda. Ohne dass es uns erstaunt, wird sein Landsmann von der südlichsten Spitze kleiner gewachsen sein, eine dunkle Haut haben und einen großen schwarzen Schnurrbart (manchmal sogar die Frauen!). Er wird von Brot, Feigen, Rotwein und Limoncello leben und auf den Namen Salvatore, Maria Assunta oder dergleichen hören und sich normalerweise kulturell eher mit den benachbarten nordafrikanischen Staaten verbunden fühlen als mit den nördlichen Nachbarn Italiens. Wie können sich derart verschiedene Menschen unter einer einzigen Fahne zusammenfinden, wenn sie nicht einmal dieselbe Sprache sprechen?
    Im Allgemeinen geht man davon aus, die größten kulturellen Unterschiede bestünden zwischen Nord und Süd. Es fragt sich bloß, wo die Grenze zwischen den beiden liegt. Für einen Bewohner Südtirols fängt der Süden in Mailand an, für einen Mailänder in Bologna, für einen Einwohner von Bologna in Florenz, für einen Florentiner in Rom und so weiter. In der Toskana betrachten wir uns als Weder-Noch. Wir wollen nicht als Teil des eher verschlafenen Südens gelten, aber wir wollen auch nicht zu den oft oberflächlichen

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