Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt
Ergebnis jahrelangen Übens. Der Beste unter ihnen gewinnt am Ende des Umzugs den »Masgalano«.
Ein von vier Ochsen gezogener Wagen – carroccio genannt -, beendet den Umzug. Ihm folgen Ritter, die die alten Adelsfamilien von Siena darstellen. Auf dem carroccio sind die schwarzweiße Fahne von Siena aufgezogen und der Palio selbst – das gemalte Banner, der ersehnte Preis für das siegreiche Stadtviertel. Die contradaioli stehen in der Platzmitte in nach Stadtvierteln geordneten Gruppen. Sie begrüßen das Erscheinen des Palio, indem sie ihre Seidentücher in den Farben ihrer contrada schwenken. Diese Seidenhalstücher sind am Tag des Palio eindeutig das häufigste modische Zubehör.
Nach einem letzten gemeinsamen Fahnenschwenken wird das Palio-Banner an der Ecke des Platzes gehisst, in deren Nähe sich die Loge der capitani befindet.
Der Böller explodiert, und die Pferde kommen aus dem Rathaus heraus. Jeder Reiter holt sich bei einem Vertreter der Stadt eine Gerte – nerbo – und begibt sich dann zum Start. Während so die Reiter langsam zum Start reiten, ist die Spannung unbeschreiblich. Niemand, nicht einmal die Reiter selbst, kennt die Startordnung, in der sie sich aufstellen werden. Diese Ordnung wird eben jetzt von einer speziellen mechanischen Vorrichtung ausgearbeitet. In diesen letzten Augenblicken ist es nicht ungewöhnlich, die Reiter bei hastigen Unterhaltungen untereinander zu beobachten. Sie versuchen noch bis zuletzt, allerlei Abmachungen zu treffen. Wenn die Startordnung feststeht, liest der mossiere sie mit lauter Stimme vor, und die Reiter nähern sich einer nach dem anderen dem vorderen Seil.
Natürlich sind die ersten Positionen die besten; die contradaioli, deren Pferde vor den anderen aufgerufen werden, brechen in Freudenrufe aus.
Man kann gut verstehen, dass es schwierig ist, die Pferde in der richtigen Reihenfolge aufzureihen, besonders wenn die Reiter alles tun, um Platz zu gewinnen. Der Starter braucht Nerven aus Stahl, wenn die Unruhe der Menge mit jeder weiteren Minute des Hin und Her zwischen den Seilen zunimmt. Wenn die ersten neun Pferde einmal aufgereiht sind, muss nur das zehnte sich noch zum Start entschließen. Sobald es vorrückt, senken sich die Seile. Die Nachläuferposition gilt als die schlechteste, obwohl dieser Reiter die ersten Augenblicke des Rennens wesentlich beeinflussen kann. So kann er einer befreundeten contrada einen Vorteil verschaffen, wenn er in dem Augenblick vorrückt, in dem diese in einer guten Position ist, oder er kann einen Feind behindern, indem er dann vorrückt, wenn das feindliche Pferd nicht richtig aufgereiht ist.
Hat das Rennen einmal begonnen, dauert es weniger als zwei Minuten. In diesen gut neunzig Sekunden, in denen das siegreiche Pferd dreimal um den Platz galoppieren muss, können die unmöglichsten Dinge geschehen. Die Reiter schlagen sich gegenseitig und versuchen, feindliche Reiter vom Pferd zu zwingen. Einige Pferde rasen in der gefährlichsten Kurve in die aufgestellten Matratzen hinein und werfen ihre Reiter auf die Rennbahn, bevor sie weitergaloppieren. Ein richtiges Getümmel, aber ohne Einfluss auf den Ausgang des Rennens. Das Pferd, das zuerst durchs Ziel läuft, gewinnt – mit oder ohne Reiter auf seinem Rücken.
Während dieser neunzig Rennsekunden befindet sich die Menge in der Platzmitte in einem Zustand ekstatischer Anspannung. Die Zeit scheint stillzustehen, und jede Sekunde des Rennens wird von tausenden und abertausenden von Augenpaaren registriert. Noch Tage nach dem Rennen wird jede Einzelheit analysiert und nochmals analysiert, diskutiert und wieder diskutiert.
Doch zuerst folgt der Siegestaumel. Das siegreiche Pferd wird von den begeisterten contradaioli seines Stadtviertels bestürmt. Sie springen über die Absperrungen, umarmen es und küssen es sogar. Der siegreiche Reiter wird fortgetragen, zusammen mit dem Palio-Banner selbst. Nun beginnt eine Zeit des Feierns, mit einem Festessen nach dem anderen und unzähligen Trinksprüchen. Chöre singen die Hymne, und man zieht mit dem triumphierend hochgehaltenen Palio durch die Straßen der Stadt. Wochenlang bleibt das Gebiet der siegreichen contrada hell erleuchtet, und erst nach monatelangem Feiern setzt das Siegesessen, bei dem das Pferd zum Zeichen seiner wichtigen Rolle am Kopf der Tafel steht, den Schlusspunkt.
Wie immer man versucht, den Palio zu beschreiben, ist es doch unmöglich, den Sieg und dessen Bedeutung für die Einwohner Sienas in ihrem
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