Toskanische Verführung (German Edition)
die Tischkante gerutscht wäre. »Mein Vater war ein unglücklicher, alkoholkranker Mann«, sagte er dann. »Er hat sich ins Grab getrunken, aber vorher hat er dafür gesorgt, dass auch seine Familie krank und unglücklich wurde. Reicht Ihnen das?«
Flannery senkte den Blick. »Es tut mir leid«, sagte sie. Wie oft würde sie das noch zu ihm sagen müssen? Er beleidigte sie und reizte sie zur Weißglut und brachte sie dazu, ihn zu kränken oder ihm zu nahe zu treten, wofür sie sich dann entschuldigen musste. Da lief doch etwas ganz und gar schief.
»Das muss es nicht«, sagte er hart. »Ich habe meinen Vater das letzte Mal gesehen, als ich fünfzehn war. Das Thema interessiert mich nicht mehr.«
»Ihren Bruder anscheinend immer noch«, erwiderte sie.
»Ich sagte es bereits: Hugo ist ein alter Schwätzer. Am besten ignorieren Sie ihn. Machen Sie Ihre Arbeit, alles andere geht Sie nichts an.« Er nahm sein Buch und stand auf. »Soll ich ihm die Anweisung geben, die Bibliothek für die Zeit Ihres Aufenthaltes hier zu meiden?«
»Nein«, rief Flannery. »Bitte, das ist nicht nötig. Er ... er ist ohnehin schon so unglücklich. Lassen Sie ihn in Frieden.«
Seine Miene erwärmte sich nicht. »Frauen«, sagte er, und es klang verächtlich. »Wenn jemand nur vor ihnen herumhumpelt, jammert und den Flügel hängenlässt, dann erwachen gleich sämtliche mütterlichen Instinkte. Lächerlich.« Er schob die Tür auf und ging hinaus.
Flannery blieb am Tisch sitzen und betrachtete ihre ineinander verschränkten Hände. Sie zitterte vor Zorn. Dieser Mann war in höchstem Maße arrogant, anmaßend und - abgesehen von seinen Wutanfällen - gefühlskalt wie ein Automat. Ein widerwärtiger Mensch, sie war froh, wenn sie ihren Auftrag erledigt hatte und ihn nie wieder sehen musste.
Hugo tat ihr leid. Wie musste es sein, mit einem solchen Bruder zusammen leben zu müssen? Krank zu sein, sich vor der Welt verstecken zu müssen und nur Alessandro della Gherardesca und eine Handvoll Bediensteter als Gesellschaft zu haben? Wahrscheinlich war er auch noch arm und auf die finanzielle Unterstützung seines ekelhaften Halbbruders angewiesen. Wie schrecklich das für ihn sein musste.
Sie stand auf und schenkte sich ein zweites Glas Wein ein, das sie mit hinaus nahm. Auf dem Rückweg zu ihrem Zimmer entschied sie sich spontan anders, sie machte kehrt und ging zur Bibliothek zurück.
Der Raum erschien ihr noch finsterer als sonst, aber inzwischen kannte sie sich gut genug aus, um ohne Licht bis zur Tür des abgetrennten Arbeitszimmers zu gelangen. Es schien kein Licht mehr durch die Fensterscheibe. Flannery legte die Hand auf die Klinke. Wahrscheinlich hatte Hugo die Tür abgeschlossen, bevor er ...
Die Klinke bewegte sich und die Tür gab nach. Flannery hielt den Atem an, als sie in das Zimmer schlüpfte und die Tür hinter sich anlehnte. Sie konnte nicht viel sehen, aber durch Herumtasten fand sie den Schalter für die Schreibtischlampe und knipste sie an.
Flannery stand in einem ganz gewöhnlichen, etwas zu vollen kleinen Arbeitszimmer. An den Wänden standen Bücherregale, in denen vor allem Ordner gelagert waren. Ringordner, Zeitungsschuber, Karteikästen. Pinnwände mit Notizen, Fotos, Zeitungsausschnitten. Hier hatte jemand offensichtlich an einem Buch gearbeitet - der Großvater des Grafen, erinnerte sie sich. Er hatte seine Lebenserinnerungen aufschreiben wollen, bevor er starb.
Sie setzte sich an den Schreibtisch und sah durch das Fenster in die dunkle Bibliothek. Von hier aus musste Hugo sie genau im Blick gehabt haben. Sie hob unbehaglich die Schultern. Es war ihr nie bewusst gewesen, wie sehr sie bei ihrer Arbeit auf dem Präsentierteller saß.
Flannery betrachtete den Schreibtisch: Ein Computer, ein paar Stifte, ein benutztes Glas und eine ältere Tageszeitung. Eine Fotografie im Silberrahmen lehnte an einem Zeitungsschuber. Es zeigte eine lachende, blonde junge Frau. Sie sah nett aus, nicht aufsehenerregend hübsch, rundlich und sehr fröhlich. Wahrscheinlich war sie eine Verwandte des alten Grafen, eine Nichte oder Enkelin.
Flannery beugte sich zur Seite und rüttelte an der Schublade des altmodischen Tisches. Abgeschlossen.
Die Schublade auf der anderen Seite ließ sich öffnen. Flannery zog sie heraus und rührte flüchtig darin herum. Das übliche Kleinzeug, das sich in Schreibtischen sammelte - zu Stein gewordene Radiergummis, Bleistiftstummel, Gummibänder, die sich mit Büroklammern zu einem unlösbaren Knoten
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