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Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)

Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)

Titel: Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.J. Lyons
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wach und … alleine.
    Selbst Alan scheint inzwischen zu denken, dass ich wegen Dir und Josh durchdrehe. Ich komme mir vor wie ein Abhängiger, der immer nur heimlich seiner Sucht frönt. Melancholie nennt man es bei den großen Schriftstellern wie Poe, Joyce, Hemingway, Browning und Faulkner. Aus ihrer Verzweiflung gebaren sie Kunstwerke. Was habe ich vorzuweisen?
    Und wenn ich aufgebe, wenn ich Euch aufgebe, mir erlaube, »loszulassen« – was bliebe dann noch?
    Du kannst Dir nicht vorstellen, wie beliebt ich heute wieder war. Jeder, dem ich begegnet bin, hat mich gefragt, wie es mir gehe, ob ich heute Abend schon etwas vorhätte. Selbst die Frau des Colonels hat mich mit geheuchelt mitleidiger Miene zum Abendessen eingeladen. Ich habe allen gesagt, ich sei mit Alan verabredet. Alan wiederum habe ich erzählt, ich würde mich mit dem Colonel treffen.
    Tatsächlich aber werde ich Dich und Josh wiedersehen.
    Das ist die letzte Tablette. Bis gleich, meine Lieben …

9
    Gleißend helles Sonnenlicht brach durch die Baumreihen und tanzte in kleinen Bündeln vor ihr auf dem Waldweg. Sarah verlor sich in dem Anblick, während sie die Lichtung überquerte, und ließ die Gedanken schweifen. Dieses Gebiet hatte sie bereits mehrfach abgesucht. Hier würde sie ohnehin nichts Neues finden.
    Beim letzten Mal war sie erst in einem Krankenwagen wieder zu sich gekommen. Zitternd, mit aufgeschnittenen und von ihrem eigenen Erbrochenen durchnässten Kleidern sowie einer Sauerstoffmaske über dem Mund, die nach altem Gummireifen gestunken hatte. Sie erinnerte sich an das Piken der Spritze im Arm, ehe man sie an den Tropf angeschlossen hatte. An Alan, der neben ihr gesessen und ihre Hand gehalten hatte. An das Licht von den Scheinwerfern des Geländewagens hinter ihnen, in dem Hal und der Colonel saßen.
    Alan hatte ihre Hand ganz fest gehalten, das Gesicht angespannt und blass in dem grellen Licht, und ihr erzählt, dass er den Colonel angerufen hatte und sie gemeinsam zu ihrem Haus gefahren seien. Da Sarah nicht dort gewesen sei, hätten sie Hal aus dem Bett geholt, damit er ihnen bei der Suche half. Dass Sarahs Körper schon ganz kalt gewesen sei, als die Männer sie endlich fanden, sie kaum noch geatmet, aber glücklicherweise einen Großteil der geschluckten Tabletten bereits wieder erbrochen hatte.
    Seine Worte waren wie der Bergnebel an Sarah vorbeigezogen, sie verstand nur eines: dass sie nicht bei Sam und Josh war. Sie hatte versagt.
    Die nächsten zwei Tage hatte sie durchgehend am Tropf gehangen und mit den Kohletabletten gekämpft, die ihr eingeflößt wurden und die sie jedes Mal als schwarze Brühe auf die Krankenhauslaken erbrach. Sozialarbeiter, psychologische Berater, der Colonel – Gott sei Dank nicht die Frau des Colonels, das war ja immerhin etwas – , Dr. Hedeger, Hal, Alan und viele andere hatten an ihrem Körper und ihrer Seele herumgedoktert.
    Am dritten Tag war sie in die Psychiatrie verlegt worden. Der sie behandelnde Arzt dort war viel zu jung gewesen, um etwas von den Abgründen der menschlichen Seele zu verstehen. Er hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, geistesabwesend mit der Hand über den modischen Kinnbart gestrichen und Sarah angelächelt.
    »Sie werden nicht lange hierbleiben«, verkündete er zuversichtlich, ehe sie auch nur ein Wort geäußert hatte. »Ich habe ihre Krankenakte gelesen. Das war kein Selbstmordversuch, habe ich recht, Sarah? Sondern das, was wir eine Geste nennen. Ein symbolischer Hilferuf. Ein Schrei nach Aufmerksamkeit.«
    Sie vergrub sich tief in ihren Sessel, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, und starrte ihn an. Er war vielleicht Ende zwanzig, nur ein paar Jahre jünger als sie selbst, dennoch fühlte sie sich uralt verglichen mit ihm. Wahrscheinlich hatte er gerade die Assistenzzeit im Krankenhaus hinter sich gebracht und saß jetzt hier mit seinem angelesenen Wissen und dieser unter Medizinern verbreiteten bevormundenden Art, die bei Ärzten anscheinend mit zur Ausbildung gehörte.
    Das Behandlungszimmer war klein, sehr ruhig, die schallisolierten Wände schluckten jedes Geräusch. Der Sessel des Arztes war bequem und gleichzeitig zu schwer, als dass ihn jemand als Waffe hätte einsetzen können – genau wie der, in dem sie selbst saß. Sarah strich über den kratzigen Bezug und versuchte, sich daran zu erinnern, warum sie immer noch lebte und warum das überhaupt von Belang war.
    Die Luft aus der Klimaanlage war jeder Lebendigkeit beraubt worden und roch nach

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