Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
Dieser bekloppte Augustin Monot erschien jetzt auf dem Bildschirm, in der Hand ein Blatt.
Ein heiterer Journalist befragte ihn: » Sie sind Lieutenant Monot von der Kripo. Wenn Sie uns bitte sagen könnten, was es mit diesem Umschlag auf sich hat, der einen solchen, haha, ganz und gar ungewöhnlichen Zwischenfall zur Folge hatte, von dem alle Welt spricht.«
Monots Gesicht wurde ernst, würdevoll. Viviane hatte ihn noch nie in dieser Rolle als Charakterschauspieler gesehen, er war großartig.
» Zunächst würde ich Sie bitten, die Sache nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Dieser Umschlag hat schon einen Toten auf dem Gewissen, nämlich den Obdachlosen, der ihn bei sich hatte. Man hat ihn ermordet, als er auf dem Quai Conti ankam. Der Inhalt dieses Umschlags ist ein Sonett, das ich Ihnen vorlesen werde.« Er las kaum ab. Er schien es auswendig zu kennen und sprach nüchtern. » Dieses Gedicht«, begann er, » trägt den Titel Die Eine, die Andere.«
Dann rezitierte er mit bebender Stimme:
» Wenn meine Seele das Göttliche ausspuckt, die Schönheit,
Die harmonischen Chöre und die Frauen, zu rein,
Mein Geschirr über einen finstren Pfad sie geleit’
Zu der Hütte voll Dunst von Vanille und Wein.«
» Großartig, das haben Sie glänzend vorgetragen, ich danke Ihnen«, schloss die Moderatorin.
» Es ist noch nicht zu Ende«, fuhr Monot mit einem vielversprechenden Lächeln fort:
» Nackt auf dem Bette erwartet mich eine Sklavin
Mit mattem Blick, ihr Körper, prächtig und schwarz, zeigt willige Haut.
Eine sapphische Unschuld, jüdische Vestalin,
Unter ihrem Korallenmund zittert, sich windet und faucht.«
Die Kamera hielt wieder auf die Moderatorin, die nach Worten suchte: » Dieses Gedicht ist in gewisser Weise… ein Aufruf zur sozialen Durchmischung ethnischer Bevölkerungsgruppen, richtig?«
» Nein, nicht wirklich. Ich lese Ihnen weiter vor:
Hüfte und Brust ganz bleich, aus Ebenholz Bauch und Schenkel,
Sind nur noch Wogen eines Begehrens ungeheuer.
Oh Höllengrund, oh spaltbreit geöffneter Tempel!«
Lieutenant Monot holte Luft, er war konzentriert, als würde er die miteinander verschlungene Sklavin und die Vestalin vor sich sehen. Viviane war davon ganz berührt.
» Wir müssen zum Schluss kommen«, fuhr die Moderatorin dazwischen.
» Ich komme zum Ende«, kündigte Monot an. Mit warmer Stimme betonte er jedes Wort:
» Entreißt mir die Seufzer, schürt meine Feuer!
Und ich sehe sich verzehren im Geächz’
Die unfruchtbare Zukunft unseres Menschengeschlechts.«
Es herrschte lange Stille. Das Unwohlsein der Journalistin war deutlich spürbar. Unverblümt stellte sie die Frage, die sie beschäftigte: » Und, was haben wir davon zu halten?«
» Es ist recht gewagt, aber gut geschrieben. Jedenfalls ist es, was ich…«
» Baudelaire! Danke, Lieutenant, wir werden auf diese Sache sicher zurückkommen.«
Viviane hatte das Gedicht nicht gut verstanden, war aber noch ganz verwirrt von der Wirkung der Stimme, die diese merkwürdigen Verse liebkost hatte. Einstweilen würde auch sie ihre Kommissarinnenstimme ertönen lassen, sehr viel weniger lieblich allerdings. Sie wählte die private Nummer ihres Assistenten, um ihm in gewählten Ausdrücken ihren Ärger beizubringen, aber er hatte sich feige hinter seinem Anrufbeantworter versteckt. Sie gönnte sich zwei Paracetamol 500, löschte das Licht und versuchte, die unfruchtbare Zukunft ihres Menschengeschlechts zu vergessen.
Freitag, 25 . Januar
Es war sehr früh am Morgen, als Viviane, noch fiebrig, im Büro ankam, aber dort hatten alle bereits viel früher ihre Plätze eingenommen, als hätten sie ihre unausstehliche Laune vorausgeahnt. Es herrschte eine verlegene Stimmung.
Brigadier Escoubet opferte sich und trotzte ihrer ersten Wut: Tolosas Komplize, dem er bis zum Krankenhaus Saint-Joseph gefolgt war, hatte ihn erspäht und war ihm durch die Lappen gegangen. Mit einem Blick scheuchte sie Escoubet aus ihrem Büro. Da sah sie Monot vorbeigehen und rief ihn mit einem ruppigen » Sie, hierher! Sofort!« zu sich.
Er ließ Viviane keine Zeit zu fragen, sondern erzählte gleich von selbst, mit dem Lächeln eines Abgeordneten: » Ist es wegen der Geschichte mit dem Sonett? Es hat Sie vielleicht überrascht, aber ich hatte so eine Vorahnung, dass es mit der Académie Komplikationen geben würde, und dieser Umschlag war wirklich sehr wichtig für uns. Also hab ich’s gemacht wie früher, als ich klein war, um heimlich die Briefe der
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