Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
davon für ihn war. Victor Hugo war ein Fremder in Victor-Hugo. Später würde sie einen ihrer Männer losschicken, um die restlichen Häuser abzuklappern, aber sie machte sich wenig Hoffnung.
Sie ging nach Hause und legte sich mit klappernden Zähnen ins Bett. Sie erfreute sich einer sehr guten Gesundheit und war an Viren und Bakterien nicht gewöhnt, in Krankenhäuser ging sie nur nach Arbeits- oder Sportunfällen. Das Eindringen einer Krankheit in ihren Körper schien ihr entwürdigend, und sie sah sich in dieser Nacht hinabsteigen in die tiefsten Gefilde der Schande. Lange Nacht der Grausamkeit: Der Husten ließ sie nicht schlafen, der Brechdurchfall setzte ihr zu, und sie musste regelmäßig aus dem Bett, um geleert wieder hineinzusteigen, übellaunig und torkelnd von dem Fieber, das sich zu aller Freude noch dazugesellt hatte.
Donnerstag, 24 . Januar
Was bei Morgengrauen von der Kommissarin nach Erbrechen und Durchfall noch übrig geblieben war, war nur noch ein Körper mit 41° Fieber. Sie rief den Notarzt, schaltete das Handy aus, legte den Telefonhörer neben den Apparat und rollte sich wieder unter ihrer Decke ein, um besser zu sterben. Sie wunderte sich, noch am Leben zu sein, als es an der Tür klingelte.
Der Arzt untersuchte sie, es schien ihm lästig, als dürfe man ihn unter 42° nicht stören. Es sei nur eine Bronchitis in Verbindung mit einer üblen Lebensmittelvergiftung. Er wollte genau wissen, was sie gegessen hatte. Die Beschreibung der Paella versetzte ihn in Staunen: Wie konnte eine Frau nur freiwillig solche Dinge zu sich nehmen!
Eine Stunde später, als Viviane ihre hilfsbereite Etagennachbarin mit einem Dutzend Schachteln Nifuroxazid, Loperamid und Acetylsalizylsäure aus der Apotheke zurückkehren sah, hatte sie eben noch Kraft genug, um mit dünner Stimmer im Kommissariat anzurufen, auf Monot zu treffen, ihm ihre Lebensmittelvergiftung anzukündigen und ihn darüber zu informieren, dass sie vor übermorgen nicht würde kommen können. Dann versank sie in Schlaf.
Kurz nach zweiundzwanzig Uhr wachte Viviane auf. Sie fühlte sich nicht geheilt, nur etwas weniger tot. Gerade genug, um im Fernsehen die Spätnachrichten anzuschauen. In diesem Moment bedauerte sie, überlebt zu haben.
Die Moderatorin sprach soeben mit einem Journalisten, der vor der Académie Française stand. Man merkte ihm deutlich die Ungeduld eines Taugenichts an, der mit seiner Schleuder gleich auf eine Ming-Vase zielen würde: die boshafte Freude am Beschädigen des Heiligen.
» Jean-Didier, heute Morgen hat es also in der Académie Française einen ganz und gar ungewöhnlichen Zwischenfall gegeben…«
» Ja, Mathilde, so ist es, ganz und gar, haha, ungewöhnlich. Offiziell gibt es von der ehrwürdigen Institution keine Stellungnahme. Aber von einem Akademiemitglied, das uns sehr vertraulich informiert hat – es bittet darum, anonym zu bleiben –, wissen wir alles, haha, über diesen Zwischenfall, äh, diesen ganz und gar ungewöhnlichen Zwischenfall. Ich weiß nicht, ob das Berufsethos mir erlaubt …«
» Nur zu, Didier, nur zu…«
» Also, da Sie darauf bestehen: Gestern hat eine Kriminalkommissarin hier in der Académie einen Brief zu Händen des Dichterfürsten abgegeben. Da man nicht wusste, wem man ihn geben sollte, wurde der Brief heute Morgen, noch verschlossen, in die Wörterbuchsitzung gebracht. Der alte Armand de Lalande, dessen freie Verse jeder kennt, hat ihn gegriffen und als Ältester der Académie-Dichter das Recht für sich in Anspruch genommen, ihn zu öffnen. Aber Félicien Driscoll, der berühmte Prosadichter, war der Meinung, dass ihm dieses Recht zustünde, da er am längsten Mitglied sei. Dagegen protestierte wiederum Jean Matsuyama, der Virtuose des Alexandriners, in dessen Augen nur ein klassischer Dichter als Dichterfürst bezeichnet werden könne. Also hat er Armand de Lalande den Umschlag aus den Händen gerissen, der sich mit Stockschlägen wehrte, und dabei Félicien Driscoll an der Augenbraue verletzte, als der dazwischenfahren wollte. Ein Ordnungshüter musste eingreifen, um diesem ganz und gar ungewöhnlichen Zwischenfall ein Ende zu setzen: eine Schlägerei und Blut in der Académie!«
» Und ist Ihnen bekannt, was der Umschlag enthielt?«
» Leider nein, mein Informant konnte es mir nicht sagen.«
» Nun, aber ich kann das; nächster Beitrag. Wir begeben uns nun in das Kommissariat, aus dem besagter Brief kam.«
Viviane spürte das Fieber wieder in sich aufsteigen.
Weitere Kostenlose Bücher