Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
ihm die guten Überraschungen vom Vorabend mit. Er nickte, als sei alles in Ordnung. Und weil sie an seiner Seite sitzen blieb, nicht wissend, was sie sagen sollte, war er es, der ihr zuflüsterte: » Sie müssen heute fertig werden. Morgen…«
Viviane ergriff sein Handgelenk, sie drückte es kaum, aus Angst, es könnte zerbrechen. Monot hatte recht. Sie musste fertig werden. Einzig der Fall Élisabeth Blum war noch zu lösen. Aber wie?
Als sie aus dem Krankenhaus kam, erhielt die Kommissarin eine SMS des Allmächtigen. Er hatte gerade erst gelernt, wie man SMS verschickte, und es machte ihm Spaß. Er wollte wissen, was es Neues gab, wie ein launische r B engel. Viviane sollte ihn um Viertel nach zwölf anrufen.
Sie ging am Großraumbüro vorbei, das Monot mit seiner Abwesenheit zu erfüllen schien. Sie saß am Schreibtisch ihres Lieutenant und blätterte noch einmal den Terminkalender von Astrid Carthago durch, der nun der von Christophe geworden war. Die Namen hielten sie zum Narren. Die vom Vormittag des Valentinstags schienen noch viel falscher als die anderen: Martin, Dubois, Granier, Petit, Garcia, Leroy– fantasielose Pseudonyme, so traurig, dass Granier fast extravagant klang. Diesbezüglich machte sie sich keine Hoffnungen, besser war, sie würde die Protagonisten einen nach dem anderen noch einmal durchgehen. Sie würde mit Cucheron beginnen, weil er der Erste im Alphabet war. Sie vereinbarte mit ihm einen Termin für den frühen Nachmittag.
» Ich werde nach dem Mittagessen beschäftigt sein, ich will mir den Cucheron noch einmal vornehmen«, sagte sie Juarez, der seine Post sortierte.
» Nehmen Sie 39/27, Commissaire.«
» 39/27? Warum sagen Sie das?«
» Nur so, 39/27 ist die gängigste Übersetzung, um den Cucheron mit dem Fahrrad zu bezwingen. Der Cucheron ist ein Gipfel, ein Klassiker der Tour de France, ich dachte, Sie wüssten das.«
Das war der einzige Nachteil, wenn man mit Männern arbeitete: Sie führten Männergespräche. Manchmal schaffte Viviane es kaum, sie zu stoppen. Auch jetzt war es zu spät, Juarez war mittendrin: » Man kann den Berg auch mit 39/29 befahren, aber das ist ein Fehler. Die zw ei Zähne mehr muss man sich für den Granier aufheben.«
» Der Granier? Was ist der Granier?«
» Das ist der Gipfel nebenan, meistens fährt man auf der Tour beide nacheinander ab. Der Granier ist der Zwilling vom Cucheron. Fast gleich, nur ein bisschen höher, ein bisschen schöner. Ich wusste gar nicht, dass Sie sich so für die Tour de France interessieren.«
» Ich habe schon immer davon geträumt, Radrennfahrerin zu sein!«
Und sie vertiefte sich wieder in den Kalender. So suchte man sich also ein Pseudonym, wenn man ein Typ wie Cucheron war: Man erträumte sich so, wie man war, nur ein bisschen größer, ein bisschen schöner.
Zehn Minuten später hatte sie im Terminkalender sieben Granier gefunden, sieben Termine in einem Jahr: Jean-Paul Cucheron war mehr als Kunde bei Astrid Carthago, er war Stammgast.
Sie rief ihn an, er bestätigte sogleich sehr gelassen: » Ja, natürlich, ich habe sie regelmäßig besucht. Wo ist das Problem?«
Wo das Problem war? Da war das Problem, Viviane war sich sicher. » Warum haben Sie das nie erwähnt?«
» Damit man in allen Zeitungen davon spricht? Das wäre sehr schlecht für mein Image. Sie haben doch gesehen, was Ihnen Ihr eigener Besuch dort eingebracht hat! Außerdem haben Sie mich nie danach gefragt. Wenn Sie noch mal mit mir darüber sprechen wollen, können wir uns nachher sehen.«
Er hatte aufgelegt, ruhig, unschuldig. Wo war das Problem? Aber es war da, sie erahnte sein Geräusch, seinen Geruch, seine Anwesenheit. Es war da, in der Avenue de La Motte-Picquet. Das Alibi mit dem Mädchen, das er am Abend des Valentinstags an einem Boulevard eingesammelt hatte, war so sicher nicht. Das Problem lag vielleicht auch in der Rue Cépré. Was war die Aussage der Concierge wert? Hatte Monot sie korrekt befragt?
Viviane parkte etwas später vor dem Haus von Élisabeth Blum. Die Concierge war nicht da, wahrscheinlich holte sie gerade ihren Sohn von der Schule ab. Ohne sich Illusionen zu machen, stieg die Kommissarin die Treppe hinauf, um nach etwas zu suchen, und fuhr ergebnislos mit dem Fahrstuhl wieder hinunter.
Während sie die Kabinentür schloss, erinnerte sie sich an ihren Telefontermin mit dem Allmächtigen und holte ihr Handy heraus.
Die Concierge, die soeben mit ihrem kleinen Sohn ankam, rief ihr zu: » Hier nicht! Hier ist kein
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