Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
hatte Élisabeth Blum das ausgehalten? Es war entsetzlich, aber Viviane bemühte sich weiter zu lächeln, höflich zu bleiben. Das war nötig für das, was kommen würde und langsam greifbar wurde.
Sie ließ ihn bei der Verstorbenen eintreten, lud ihn ein, sich in einen Lehnsessel zu setzen, ihr gegenüber. Nur ein niedriger Tisch stand zwischen ihnen. Der ideale Rahmen für eine Unterhaltung unter Freunden. Es fehlten nur ein Armagnac und das Miles-Davis-Quintett.
» Wozu haben Sie mich hergebracht?«, fragte Cucheron.
Sie suchte noch nach Worten, nach einer Haltung. Sie musste sich Zeit nehmen, freundschaftlich plaudern, aber nicht zu sehr: Ihr blieb nicht mehr als eine Stunde für sein Geständnis. » Weil wir hier eine einfache Unterhaltung führen können. Polizeigewahrsam ist so förmlich, indiskret. Alles würde aufgezeichnet werden. Eine Unterhaltung ist viel angenehmer, oder?«
Er lächelte, beunruhigt. Ein Hauch von Lächeln, aber ein Lächeln, das war ein guter Anfang. Sie tat es ihm gleich.
» Ich werden Ihnen eine schöne Geschichte erzählen, die ein bisschen schlecht endet. Sie können mich unterbrechen, wann Sie wollen. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Das hier ist ganz informell, nichts kann gegen Sie verwendet werden.« Sie räusperte sich. Sie mochte Geständnisse, vor allem, wenn sie sie anstelle von anderen machen durfte. » Das ist die Geschichte von meinem Freund, nennen wir ihn Jean-Paul. Er ist traurig, Jean-Paul, weil er ein großer Experte ist, von größter Kompetenz, aber das wissen nur wenige. Da kommt eine Expertise von genau seinem Kaliber, eine Expertise, von der alle Medien sprechen werden– und nicht er ist es, dem man sie anvertraut!«
» Warum hat man sie Élisabeth Blum gegeben, wenn ich fragen darf? Hatte sie Kontakte?«
Angesichts von so viel Bitterkeit war sie geneigt, ihn zu beruhigen, aber sie wollte die Stimmung nicht verderben, noch weniger eine Antwort geben. Vor allem nicht die wahre: Monot hatte die alphabetische Liste der Experten zur Hand genommen, Blum war als Erste aufgeführt, genau vor Cucheron. Sie musste diesen Anflug von Vertraulichkeit bewahren. » Ah, das…«, seufzte sie, und es schien ihr schon viel. Sie fuhr fort: » Jean-Paul verordnet sich also einen Moment der Bescheidenheit. Er bittet Madame Blum um ein Treffen und bietet ihr an, umsonst mit ihr an diesem Fall zu arbeiten und dafür als Coautor zu zeichnen. Aber sie lehnt ab. Das alles hat er uns schon erzählt. Er erfindet also einen Vorwand, seine Kollegin herauszulocken. Im Fahrstuhl, im Angesicht seiner Feindin, wird Jean-Paul böse und tötet sie. Wir kommen darauf zurück. Er hat die Tat vielleicht improvisiert, vielleicht auch nicht. Sagen wir, er hat sie sich vorgestellt, ein bisschen, wie einen schlechten Gedanken. Stimmt das so weit?«
Cucheron antwortete nichts, er schaute woanders hin. Er wartete auf die Fortsetzung, als würde er sie nicht kennen.
Viviane holte Luft: » Als er aus dem Fahrstuhl kommt, hört Jean-Paul die Concierge, die mit ihrem Sohn heimkommt. Jetzt zeigt sich sein großer Geist: Er verfällt nicht in Panik, sondern simuliert eine Unterhaltung mit der Leiche. Er spricht mit ihr, antwortet zwei, drei Worte an ihrer Stelle. Das leise Flüstern von Madame Blum ist so leicht nachzumachen! Dann drückt er auf den Knopf und schließt die Tür, um das Opfer zurück auf seine Etage zu schicken. Er hat ein unerschütterliches Alibi. Aber er tut zu viel des Guten. Kaum hat er den Fahrstuhl verlassen, tätigt er diesen Pseudoanruf, um die Verabredung zum Essen abzusagen. Er weiß nicht, dass er hier keinen Empfang hat. Schade, es fügte sich alles so gut zusammen. Der Mord würde dem mysteriösen Mörder zugeschrieben werden, einer mehr oder weniger… Jean-Paul musste sich nur vom Medienruhm tragen lassen. Er setzt sogar noch eins obendrauf, indem er sich Drohbriefe schreibt. Aber es geht schief, und am Ende der Geschichte ist der arme Jean-Paul so traurig wie am Anfang.«
» Und das lila Heftchen? Wo ist das laut Ihrer Version?«
» Dort, wo es immer gewesen ist: in Jean-Pauls Fantasie. Das ist, was die Engländer einen red herring nennen, einen dieser sehr gepfefferten Bücklinge, den die Ganoven hinter sich warfen, um die Polizeihunde von ihrer Spur abzubringen, wenn sie ihnen auf den Fersen waren. Fast hätte es geklappt.«
Jean-Paul Cucheron schwieg. Er hatte verloren, er schmollte.
Die Kommissarin war noch nicht fertig, sie musste ihn noch aus der Reserve locken.
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