Tote Dichter lügen nicht: Roman (German Edition)
Empfang, man muss oben aussteigen, oder in die Eingangshalle gehen, hier funktioniert das nicht.«
» Sind Sie sicher?«
» Ich lebe jetzt fünf Jahre hier, und vor dem Fahrstuhl hat noch niemand telefonieren können.«
Viviane entfernte sich, um den Allmächtigen anzurufen. Der Gute, wollte sie nur daran erinnern, dass ihr der Fall noch heute Abend, um Mitternacht, entzogen würde. Er wagte es nicht, Monot zu erwähnen. Sie beruhigte ihn: Der Fall mache Fortschritte, ihr gehe es besser als ihrem Assistenten. Sie lief zurück zur Concierge.
» Als Sie am Tag des Mordes ankamen, war Monsieur Cucheron im Gespräch mit Madame Blum. Haben Sie die Unterhaltung gesehen oder gehört?«
Die Concierge runzelte die Brauen, als würde sie mit einem Objektiv weit entfernte Erinnerungen scharfstellen. Dann war es so weit, es war ihr gelungen. » Beides. Ich kam vom Eingang, ich haben diesen Monsieur Cucheron gesehen, von hinten, wie er aus der Fahrstuhlkabine kam. Er sagte zu Madame Blum: ›Gut, liebe Madame, dann gehe ich jetzt!‹ Sie war im Fahrstuhl, ich habe gehört, wie sie zwei, drei Worte mit ihrer leisen Stimme genuschelt hat, und er verließ sie mit einem: ›In Ordnung, Madame Blum, wir sprechen noch einmal darüber.‹ Er hat die Tür geschlossen, als ich bei ihm ankam, und der Fahrstuhl fuhr nach oben. Den Polizisten habe ich das alles schon erklärt.«
» Aber jetzt haben Sie es mir viel besser erzählt, bravo.«
Sie bat sie um die Schlüssel zur Wohnung der Verstorbenen. Sie wusste nicht genau, was sie damit tun würde. Ihre Idee war verworren, noch unreif. Zwei Stunden später traf der Grafologe im Kommissariat ein, widerwillig.
» Ist das jetzt strafbar, Kunde bei Astrid Carthago zu sein? Davon gibt es eine ganze Menge, müssen Sie Quote machen?«
» Sie genügen mir, Monsieur Cucheron. Ich informiere Sie darüber, dass ich Sie in Polizeigewahrsam nehmen werde.«
Sie brachte ihn in den Verhörraum und bereitete in Auszügen Artikel63 des Strafgesetzes vor, das sie ihm vorlesen musste. Sie tat das, ohne recht daran zu glauben, sie fühlte, dass sie einen Fehler beging.
» Ich werde den Staatsanwalt benachrichtigen, Monsieur Cucheron. Sie dürfen jemanden anrufen, um ihn über Ihre Lage zu informieren. Das Telefon steht Ihnen zur Verfügung.«
Cucheron schien nicht zu begreifen. Sein Blick war vage, betrübt.
» Gibt es eine Madame Cucheron? Haben Sie eine Freundin? Sie können jemanden aus Ihrer Familie anrufen, auch einen entfernten Verwandten.«
Cucheron wackelte unbestimmt mit dem Kopf. War das ein Ja, ein Nein?
» Sie sind nicht dazu verpflichtet. Es ist nur für den Fall, dass Sie ein medizinisches Problem haben. Wenn Sie keine Familie haben, rufen Sie einen Freund an.«
Cucheron rührte sich nicht. Versteinert, leidend.
» Oder einen Bekannten. Einen Kollegen, einen Nachbarn, mit dem Sie sich gut verstehen.«
Viviane hatte begriffen. Cucheron lebte in Einsamkeit, in einer absoluten affektiven Armut. Er hatte keine Frau, keinen Kumpel, keine Bekannten, niemanden, mit dem er sich austauschen konnte, niemanden, der ihm sagen könnte, dass er mörderischen Mundgeruch hatte. Seine Gesellschaft bestand einzig aus den ungewissen Buchstaben Unbekannter. Cucheron würde in Polizeigewahrsam nicht aussagen, er würde sich in sein Schweigen hüllen, in seine gewohnte Einsamkeit. Man musste ihm etwas anderes bieten, ein anderes Dekor. Und zu Beginn ein großes Lächeln: » Gute Nachricht! Vertagen wir den Polizeigewahrsam! Kommen Sie mit mir, Cucheron.«
Sie ging mit ihm zum Clio. Er sagte nichts mehr, als gönne er sich selbst eine Verlängerung des Polizeigewahrsams. Sie schaltete das Radio ein und bot ihm ein wenig klassische Musik zur Entspannung. Eine Altstimme schwang sich auf, begleitet von Chor und Orgel.
» Ich glaube, das ist Bach«, sagte Viviane ganz stolz.
» Nein, es klingt ähnlich, aber das ist Mendelssohn. Ich weiß den Titel nicht mehr, das ist ein Psalm über die Einsamkeit von König David, hören Sie.« Er rezitierte eifrig: » Lass’, o Herr mich Hülfe finden, neig’ dich gnädi g meinem Fleh’n. Schwach und hülflos soll ich tra ue n…«
Als der Psalm zu Ende ging, schwieg Viviane. Es schien, als öffnete Cucheron ihr die Türen zu seiner Einsamkeit. Was würde sie dort tun?
Sie fragte sich das immer noch, als sie in der Rue Cépré ankamen. Der Fahrstuhl war noch enger, als sie gedacht hatte. Sie fuhren aneinander gedrängt nach oben, ihr Atem vermischte sich. Wie
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