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Tote essen keinen Döner

Titel: Tote essen keinen Döner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Pöbel da drin habe ich nichts gemeinsam, von meiner polierten Glatze mal abgesehen.
    Die Polizei hätte es natürlich viel einfacher als ich, den Mörder zu fassen! Sie bräuchte nur das gesamte Publikum inklusive der Bänd, der Türsteher, der Ordner und des Veranstalters komplett zu verhaften.
    |78| »Hei, Kamerrad«, spricht mich plötzlich ein Nazi von der Seite unvermittelt an.
    »Hei, Kamerad«, antworte ich ihm.
    »Echt geile Mucke, nicht?«
    »Klarr doch!«
    »Ey, bist du Ausländerr?«, fragt er.
    »Ich hassen Ausländerr! Ich bin Waldemar«, rufe ich, so laut ich kann.
    »Ich bin Igorr Popotschenkov. Ich bin Russlanddeutscher.«
    Oh Scheiße! Jetzt habe ich den russischen Salat! Wie komme ich aus dem Mist bloß wieder raus? Warum muss ich von den tausend Nazis hier genau den einen aus Russland erwischen? Warum hat Mehmet mich gerade aus Kasachstan kommen lassen? Der wird bestimmt jetzt sofort anfangen, mit mir Russisch zu reden.
    »Ich bin Polendeutscher«, sage ich. Und ich weiß nicht mal, ob es so was wie Polendeutsche überhaupt gibt. Aber was Besseres fällt mir auf die Schnelle nicht ein. Ich bete zu Gott, dass Igorr kein Polnisch kann. Ich kann’s nämlich nicht so gut. Anscheinend gibt es aber doch Polendeutsche. Zumindest behauptet Igorr nicht das Gegenteil.
    »Endlich in derr Heimat, nicht warr, Kamerrad?«
    »Scheißkommunisten«, rufe ich. Schon wieder fällt mir auf die Schnelle nichts Besseres ein. Ich stelle schmerzlich fest, dass Mehmet mich auf meine Rolle sehr unzureichend vorbereitet hat. Dass ein lächerliches ›Ich Wladimir, ich kommen Kasachstan‹ für eine Konversation nicht ganz ausreichen würde, hätte doch jedem Idioten, außer Mehmet, klar sein müssen. Selbst die geistig minderbemittelten Nazis haben einen größeren Wortschatz. Bis zu |79| zwanzig Wörter können die. Obwohl sie in der Öffentlichkeit ihr Potenzial nicht ganz ausschöpfen und sich, sparsam, wie sie sind, mit nur zwei Wörtern begnügen: »Ausländer raus!!!« Und die restlichen achtzehn Wörter beschränken sich auf Biermarken. Mit den Ausrufezeichen hingegen sind sie nicht so sparsam, genauso wenig wie mit dem Alkohol.
    Mein neuer Kamerad aus Russland ist hier der Einzige in der Runde, der quatschen will. Alle anderen sind sturzbesoffen, saufen fröhlich weiter und rülpsen sich gegenseitig ins Gesicht. Als Zeichen meiner Dazugehörigkeit, sozusagen als Beweis meiner solidarischen Beschränktheit, rülpse ich Igorr auch mehrmals genüsslich mitten ins Gesicht. Zu meiner großen Enttäuschung rülpst der Russe nicht zurück. Somit wäre der erste große Unterschied zwischen russischen und deutschen Nazis empirisch nachgewiesen. Russische Nazis rülpsen nicht zurück. Jedenfalls nicht gegenüber einem polnischen Nazi. Da gibt es anscheinend Tabus, die noch aus dem Warschauer Pakt herrühren.
    Na gut, ich will dieses Thema nicht noch weiter ausreizen, aber heutzutage ist das Rülpsen längst keine Bestätigung mehr dafür, dass einem das Essen geschmeckt hat. Die Zeiten, als Luther gefragt hat: »Warum rülpset und furzet ihr nicht, hat es euch nicht geschmecket?«, liegen nämlich schon ein paar Jahrhunderte zurück. Aber außer Igorr scheint das hier niemand mitgekriegt zu haben.
    »Sag mal, Waldemarr, bist du fürr diese Arrt von Musik nicht schon etwas zu alt?«, labert Igorr mich schon wieder von der Seite an.
    »Musik egal, ich kommen, weil ich Fascho!«, sage ich, |80| unschlüssig, ob ich dabei den rechten Arm voll ausstrecken soll. Deshalb mache ich halbherzig eine 4 5-Grad -Biegung. Im Notfall könnte ich dann immer noch behaupten, ich hätte auf den Idioten dort drüben gezeigt, der zehn Meter weiter in seiner eigenen Pfütze liegt.
    »Bist du wirklich Fascho?«, lässt der nervige Igorr nicht locker.
    »Ich Stockfascho, bis zum Anschlag!«
    Als Beweis dafür fange ich an, mit besonders ekelhafter Stimme rumzugrölen:
    »Ausländerrr rrausss, Ausländerrr rrausss!!!«
    Es ist eine chronische Krankheit von uns Ausländern in Deutschland. Ständig sind wir in Argumentationsnot. Immer wieder müssen wir unsere Existenz begründen, erklären, entschuldigen und beweisen. Selbst ein atheistischer Iraner versucht hier dauernd zu erklären, warum er gar kein radikaler Islamist sein kann. Der in Deutschland geborene Türke schwört Stein und Bein, dass er nicht hierhergekommen sei, um Sozialhilfe zu kassieren. Und der schwarze Schlosser hält ungefragt zehn Mal am Tag seinen Werksausweis von Halle 4 hoch,

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