Tote Finnen tanzen keinen Tango: Kriminalroman (German Edition)
Jokela und Antikainen ließ Kuhala einfach keine Ruhe. Auch über den blauen Nissan musste er ständig nachdenken. Wie viel wusste die Polizei überhaupt von all dem? Nevakivi hatte das Geheimnis nicht gelüftet. Und war Kai Vikman tatsächlich so blöd gewesen, sich den Nissan unter seinem eigenen Namen für kriminelle Zwecke auszuleihen? Als ehemaliger Söldner sollte er mit dubiosen Aktionen eigentlich Erfahrung haben. Vikman musste auch etwas über Sprengstoff wissen, aber wo zum Teufel hielt er sich versteckt?
Kuhala machte die Kühlschranktür zu, blieb aber in der Hocke und verlor sich eine Weile in Gedanken. Bei dem Verschwinden von Helena Jokela und Sakari Antikainen gab es eine zeitliche Übereinstimmung, aber etwas störte ihn. Und der Fundort des Passat machte den Doppelknoten endgültig unauflösbar.
Jeri schleuderte draußen einen Ast durch die Gegend, in seinem Fell hing ein Stück Bartflechte. Das ewige Kopfzerbrechen brachte keine Fortschritte und würde nur die kostbaren freien Tage verderben. Kuhala zog das Hemd aus und packte seine Werktagsshorts aus, die aus einer Achtzigerjahrekollektion stammte. Mit dem Bier in der Hand ging er an den See und warf einen Blick in die winzige Sauna am Ufer, in der es nach Kiefernseife und Harz roch. Die weiblichen Figuren auf dem Thermometer verdeckten ihre Anmut mit Saunaquasten, auf der Sturmlaterne im Fenster des Umkleideraums blühte der Rost.
In der Nacht fuhr Kuhala beim Ruf eines Brachvogels auf, der über den dunstverhangenen See flog. Kuhala kratzte sich im Nacken und ächzte, im Gebälk bohrte der Holzwurm. Nach fünf Bier, zwei Gläsern Haddington House und einem halben Ring Fleischwurst mit Tomaten-Zwiebel-Salat strich ihm eine Stahlbürste von innen über die Magenwände. Was sich im Hals an Ablagerungen angesammelt hatte, schmeckte nach Kognaksenf. Er drehte sich auf die andere Seite und beschloss, am nächsten Morgen zum Ackerrand zu rennen und anschließend ans andere Ufer der Bucht zu kraulen. Nach einigem Abwägen im Halbschlaf dachte er allerdings, dass er das Laufen doch lieber ausfallen lassen und vom Steg aus bloß ein paar Züge machen würde, falls überhaupt. Das leistungsbezogene Lebensmodell brachte einen ebenso schnell ins Grab wie die Fleischwurst; man musste sich die Tugend des Mittelwegs zu eigen machen, bevor es zu spät war. Er gehörte einer Generation an, die die Befehlskette von Elternhaus und Schule zu ernst genommen hatte, er war kaum fähig, sein Bier zu trinken, ohne sich schuldig zu fühlen. Ob sich das irgendwann einmal ändern würde, nach all den Kirchenliedern mit Orgelbegleitung? Die am Fußende zerknüllte Bettdecke rutschte auf den Boden.
Im Moment reichte sein Wille nicht mal zum Pissen. »Jeri!«
Kuhala drehte sich um, in der Küche glotzte das flachshaarige Mädchen vom Heim & Herd -Titelblatt. Die Haustür stand einen Spaltbreit offen, erneut zerriss der wehmütige Ruf des Brachvogels den nächtlichen Dunst.
Dem Hund war warm geworden, er hatte die Tür geöffnet und war zum Schlafen ins Freie gegangen. Kuhala rappelte sich auf und wartete ab, bis der Schwindelanfall sich gelegt hatte. Dann kratzte er sich im Schritt und ging nach draußen. Der Windhauch sorgte für einen klaren Kopf, und die ersten Barfußschritte im Morgentau machten ihn noch mehr wach. Mit abstehenden Haaren und nackt erleichterte er sich an einer jungen Fichte: ein schwerer, leicht schwankender Mann, ein etwas abgelebter Faun.
Kein Wunder, dass Liedermacher und Dichter sich zu ihren besten Leistungen aufschwangen, wenn sie die finnische Sommernacht zum Thema wählten. Leino, Hector, Hellaakoski, Helismaa. Kuhala schüttelte ab und tupfte sich die Schwanzspitze mit einem Birkenblatt trocken. Er fühlte sich wie leicht beschwipst und war überhaupt nicht mehr müde, prompt kam auch schon ein Lied aus seinem Mund: »Der Wind hat sich gelegt, die Ente schwimmt ins Schilf …«
Dann entfuhr ihm ein erschrockenes Kreischen, das er allerdings erstickte, bevor es seine Männlichkeit endgültig infrage stellte. Im Segeltuchstuhl auf der Veranda saß jemand, zu dessen Füßen sich Jeri eingerollt hatte.
»Annukka!«
»Otto.«
»Was machst du da?«
»Wenn ich mich richtig erinnere, hast du mich eingeladen, herzukommen.«
»Schon. Aber so alleine für dich?«
»Dein Hund hat mir Gesellschaft geleistet. Wann hast du dir den angeschafft? Ziemlich süß. Ich war auch schwimmen. Ich mochte dich nicht wecken, weil du aussahst wie einer, der
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