Tote gehen nicht
Dr. Schramm. Das Türschloss hat einen Schlitz. Sie stecken die Chipkarte hinein und die Tür öffnet sich automatisch.«
»Mal sehen, ob das klappt«, knurrte Guido und versenkte die Karte in die Brusttasche seiner Cordjacke. Er wandte sich ab, blieb abrupt stehen und drehte sich noch einmal um. »Welches Zimmer noch mal, Mädchen?«
»Kabine L 164«, flüsterte Annika. »Das steht auch auf Ihrer Chipkarte. Ihre Kabine befindet sich auf dem Deck Laguna im zweiten Stock. Dort drüben ist der Aufzug. Ihr Gepäck wird Ihnen gleich gebracht.«
»Welches Gepäck?«
»Ihr Koffer?!«
Guido klopfte auf seine Schultertasche. »Alles, was ich brauche, ist hier drin.«
Annika lächelte gequält. »Wir wünschen Ihnen eine gute Reise, Herr Dr. Schramm. Um 19 Uhr wird im Restaurant Galaxy das Abendessen serviert.«
»Was gibt es denn?«, fragte er und leckte sich über den Schnurrbart.
»Sektempfang mit ...«
»Keinen Champagner?«
Mit verkniffenem Lächeln erklärte Annika: »Wie gesagt, Sektempfang mit unserem Kapitän und dann ein Buffet, Herr Dr. Schramm. Sicher ist auch für Sie etwas dabei.«
»Das wollen wir hoffen. Und lassen Sie mal den Doktor weg, Kindchen.«
»Wie Sie wünschen, Herr Dr. ... eh, Herr Schramm.
Als Annika rief: »Wir bitten um festliche Kleidung«, schlossen sich hinter Guido bereits die gläsernen Aufzugstüren.
Auf Deck Laguna öffneten sie sich wieder und vor Guido Schramm lag ein schmaler Gang, der mit einem dunkelblauen Teppich mit goldenen Lilienmustern ausgelegt war, das von Deckenspots angestrahlt wurde. Die Wände waren mit glänzendem Mahagoniholz verkleidet und zeigten Fotografien berühmter Schiffe. Ein paar Schritte und zwei Kabinen weiter, Guido steckte seine Chipkarte ins Schloss. Grünes Licht. Die Tür sprang auf.
»Nicht schlecht«, meinte er anerkennend und knipste das Licht an. Die Kabine, die vor ihm lag, reichte bis zu einer bodentiefen Fensterfront, die Guido mit vier langen Schritten erreichte. Er schob den Vorhang beiseite, öffnete die Tür und trat auf einen Balkon. Ein Duftgemisch aus Tang und Fisch und Dieselöl stieg ihm in die Nase. Er lehnte sich über die weiß lackierte Reling und sah hinunter aufs Wasser. Seine Kabine zeigte zum Hafen. Die letzten Passagiere kamen an Bord, sie wurden um Eile gebeten. Zur Linken und Rechten erstreckten sich die Balkonreihen an Deck Laguna.
Guido kehrte zurück in seine Kabine. Er stellte seine Tasche ab, zog seine Jacke aus und öffnete Türen, Schubladen und Fächer und testete die Matratze. Die Einrichtung war ein Wunderwerk der Innenarchitektur, jeder Winkel der etwa 12 Quadratmeter war optimal genutzt. Die Ausstattung war luxuriös, ein wenig zu barock und pompös, wie er fand. Gold war die dominierende Farbe, von der Stofftapete zur Bettdecke, vom Sesselchen bis zu den Wasserhähnen im Marmorbad.
Guido überlegte dem edlen Spender eine SMS zu schicken, als schrilles Hupen ihn zurück auf den Balkon lockte. Die Crew begann, die Gangway einzuziehen, als ein Taxi mit quietschenden Reifen an der Stazione Marittima zum Stehen kam. Die Türen flogen auf. Eine attraktive Frau ohne Alter entstieg dem Fond. Während der Fahrer im Laufschritt das Gepäck, ein rotes Kofferset, weiterreichte, stöckelte die Frau, die unglaublich lange, dünne Beine hatte, an Bord. Sie trug ein schmales, dunkelblaues Kleid mit Spaghetti-Trägern. Ihre dunkelbraunen Haare waren zu einem exakten, kinnlangen Bob geschnitten. Eine Sonnenbrille saß auf ihrem Scheitel. Auf ihren Augenlidern lag ein dunkler Schatten, als sie auf Guido aufmerksam wurde und ihre Blicke sich trafen. Kurz danach verschwand sie aus seinem Sichtfeld. Und es war ihm, als hätte er Jennifer Lopez gesehen.
Alle Mann an Bord, sagte er sich, löschte das Licht und ließ sich auf die goldene Bettdecke fallen, schob sich eine Nackenrolle unter den Kopf, um über die Reling hinweg das Meer sehen zu können. Hin und wieder segelte eine Möwe durch die Luft, hin und wieder zog in der Ferne ein Kahn vorbei. Die MS Phantasy lag wie ein Stein im Wasser, Guido malte sich ein sanftes Schaukeln aus, prompt wurden seine Augenlider schwer. Gähnen überfiel ihn. Es war lange her, dass er eine so weite Reise gemacht hatte, und sie war noch nicht zu Ende. Sie fing gerade erst an.
Es war zwischen Schlaf und Traum, dass er glaubte, ein Schaben an der Kabinentür zu hören und zu sehen, wie die Klinke heruntergedrückt wurde. Er blinzelte. Es geschah ein weiteres Mal. Schaben. Drücken.
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