Tote gehen nicht
hier.«
»Es gibt keine Zufälle«, behauptete Sonja.
Wesseling hob beschwichtigend die Hände. Röte hatte jetzt auch sein Gesicht überzogen. Er hatte sie sehen wollen, reimte sich Sonja zusammen und lächelte milde. »Nächstes Mal kommen Sie einfach bei mir in Wolfgarten vorbei, Herr Oberstaatsanwalt. Ich würde mich freuen«.
»Je nun.«
Zurück im Forsthaus fand sie mit Wests Hilfe nach einigem Stöbern im Abstellraum unter der Stiege ein paar braune Wanderschuhe im Originalkarton. Wesseling hatte dem Land NRW nur 129,50 Euro erspart. Sie sahen aus wie zweimal getragen. Im rechten Schuh steckte ein blauer Schal.
In der gleichen Ecke im Regal entdeckte sie auch ihre Teleskop-Stöcke, die durch ein Spinnennetz miteinander verbunden waren, und den Rucksack, in dem eine Windjacke, eine Wasserflasche und ein verbeulter, kleinkarierter Südwester ihr Dasein fristeten. Da war er ja, ihr neuer Sommerhut.
Sie breitete ihre Ausstattung in der Wohnküche auf dem Tisch aus. West bestieg den Schuhkarton, machte es sich darin gemütlich und begann postwendend zu schnurren. Sonja ging um den Tisch herum, links herum, rechts herum, und musterte ihre Ausbeute wie einen Schatz, den niemand haben wollte. Sie erinnerte sie an eine Zeit, an die sie lieber nicht erinnert werden wollte.
Und sie verfluchte die Vorstellung, zur Beruhigung der Bevölkerung eine Wanderung machen zu müssen. Wo kam die Polizei denn hin, wenn sie jeder Sinnestäuschung nachging? Es gab keine Ungeheuer mehr. Diese Zeiten waren vorbei. Wahrscheinlich hatten die Wanderer zu viel am Eifel-brand genippt.
Sie verschränkte die Arme über der Brust und wünschte Wesseling und Roggenmeier ein schweres Schicksal.
3. Kapitel
8. Mai, 15.45 Uhr MS Phantasy, Genua
Der Himmel über Genua war wolkenfrei und marineblau. Landeinwärts wuchsen Hügel zu Gebirgen, und Städte verstreuten sich zu Dörfern und Weilern, im Yachthafen tummelten sich Motorboote, im Industriehafen lagen mächtige, dunkle Containerschiffe, Rumpf an Rumpf vertäut. Die Luft war erfüllt vom Geschrei der Möwen, dem Hupen der Schiffshörner und dem Klackern der Leinen an die Masten.
Die Guardia Costiera auf Motorrädern oder in kleinen, wendigen Booten war allgegenwärtig. Den Augen der operettenhaft Uniformierten hinter den verspiegelten Sonnenbrillen entging nichts. Es sei denn, es war so gewollt.
Der westliche Hafenabschnitt, genannt Cruise Terminal , war für die weißen Kreuzfahrtschiffe reserviert, die in der Sonne um die Wette glänzten. Das Meer war glatt und ruhig.
An Land war man umso geschäftiger. Unter lauten Zurufen und hektischem Hin und Her wechselten die Crews, Busse holten und brachten Passagiere und Gepäck, Transporter lieferten Lebensmittel und Wäsche. Emsige Putzkolonnen trafen ein. Ingenieure und Mechaniker kümmerten sich um die technischen Details und kontrollierten die Betankung.
An der Stazione Marittima lag die MS Phantasy. Sie hatte alle Prozeduren hinter sich gebracht. Marmor, Glas, Spiegel und Holz waren poliert, die Vorräte aufgefüllt, die neue, ausgeschlafene Crew steckte frisch und adrett in ihren dunkelroten Uniformen und wartete auf die Einschiffung der neuen Passagiere, die am Flughafen Cristoforo Colombo oder den Bahnhöfen Brignole und Piazza Principe eingesammelt wurden. Nur einige wenige kamen mit eigenen Pkw und parkten am Ponte dei Mille , um die letzten Schritte zu ihrem großen See-Abenteuer zu Fuß zu gehen.
Die Crew war guter Dinge. Nicht mehr als die Hälfte der 532 Kabinen war belegt, was nur halb so viel Ärger und Stress während der bevorstehenden Kreuzfahrt durch das westliche Mittelmeer bedeutete. Eigner und Reeder betrachteten das vermutlich anders, aber die hatten ihren Sitz weit weg im deutschen Hamburg. Immerhin waren alle sechs Deluxe-Suiten gebucht worden, aber nur 35 Mini-Suiten, 180 Außenkabinen und 70 Innenkabinen waren hergerichtet. Den Passagieren blieben noch drei Stunden Zeit, um an Bord zu kommen.
Pünktlich um 18 Uhr würde die MS Phantasy in Richtung Malaga ablegen, das sie nach einem langen Tag auf hoher See gegen Mittag des Folgetages erreichen würde, um von dort am Abend die Route Richtung Cadiz, Lissabon, Gibraltar, Alicante und Barcelona fortzusetzen. Nach zehn Tagen sollte sie wieder in Genua an der Stazione Marittima anlegen, und alles ging von vorne los. Das war das Leben der MS Phantasy, das sie seit fünf Jahren führte. Letzte Abwechslung war die
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