Tote gehen nicht
Eifelsteig zum großen Teil außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Polizeibehörde Euskirchen verlief. »Erst auf der vierten Etappe, etwa ab Wollseifen, betritt er Ihr Terrain«, erklärte er im Oberlehrerton. »Und auf der achten Etappe, wenn er die Grenze zwischen Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz passiert, also in Höhe des Ortes Mirbach, verlässt er es bereits wieder. Also müssen Sie sich nur um, sagen wir, 60 Kilometer Eifelsteig kümmern.« Er zog ein kariertes Stofftaschentuch aus dem Jackett und schnäuzte sich.
»So!«, meinte Roggenmeier.
»Aber die Grenzen sind nicht markiert«, erinnerte Sonja ihn und schürte erneut das Feuer. »Sie sind grün. Das Ungeheuer braucht nur einen Schritt in die falsche Richtung zu tun – und schon haben wir den Salat.«
Bedrückendes Schweigen.
»Bisher wurde es nur im Bezirk Aachen gesehen«, räumte Roggenmeier ein.
»Auf der ersten und der zweiten Etappe«, fügte Wesseling hinzu. »Zwischen Kornelimünster und Roetgen.«
»Ist es auf dem Weg zu uns?«, fragte Sonja und gab sich Mühe, ernsthaft zu klingen.
»Ich fürchte es«, meinte Roggenmeier.
»Wie sieht es denn aus?«, fragte Sonja.
»Wenn man das genau wüsste!« Roggenmeier warf verzweifelt die Hände in die Luft. »Meldungen aufgeschreckter Wanderer zufolge ist es ein Riese, über zwei Meter groß, und hat einen Buckel.« Er zeichnete eine monströse Gestalt in die Luft. »Es ist mit einem Wanderstock bewaffnet, groß und krumm wie Rübezahl und ganz unheimlich gekleidet.«
»Ach was«, sagte Sonja.
»Das Schlimmste aber ist«, Roggenmeier beugte sich vor und senkte seine Stimme. »Es kommt mit einer Riesen-Geschwindigkeit voran. Das schafft kein normaler Mensch. Solche Schritte!« Er hielt seine Hände etwa zwei Meter voneinander entfernt. »Und es scheint nie eine Pause zu machen. Es kann Tag und Nacht gehen. Das ist doch nicht normal!« »Dann kann es ja nicht mehr lange dauern, und es ist bei uns!«, sagte Sonja voraus.
»Genau«, bestätigten Wesseling und Roggenmeier zufrieden und warfen ihr einen fast liebevollen Blick zu, weil sie endlich verstanden hatte.
»Sicher hinterlässt es solche Fußspuren«, sagte Sonja und zeichnete Rechtecke in DIN-A3-Größe in die Luft. »Wie Big-foot?«
Langsames Nicken, die Bedächtigkeit stand für die Gefährlichkeit.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Sonja ratlos.
Roggenmeier versuchte, vor allem sich selbst zu beruhigen, als er sagte: »Noch ist nichts passiert.«
Da meldete sich Wesseling endlich zu Wort. »Wir gehen selbstredend davon aus, dass es sich hier um eine Phantasterei handelt, die im Zuge der Verbreitung zur heillosen Übertreibung wurde. Ausgehend von einer Sinnestäuschung, wenn Sie wissen, was ich meine, denn je nach Tageslicht und Witterung können Dinge in der Natur eine andere Form annehmen ...«
»Und wegen einer Sinnestäuschung trommelt man mich außerhalb meiner Dienstzeit hierher?«, unterbrach Sonja ihn.
Roggenmeier räusperte sich verlegen und wechselte einen Blick mit Wesseling. »Sie sollten Ihre Wanderschuhe putzen und ...«
»Ich habe keine Wanderschuhe!«, blaffte Sonja zurück.
»Dann wäre jetzt die richtige Zeit, welche anzuschaffen.«
»Ist das eine dienstliche Anweisung?«
»Nein«, meinte Wesseling, »so weit ich mich erinnern kann, sind wir doch schon einmal zusammen gewandert, Frau Hauptkommissarin. Das muss 2004 gewesen sein. Sie erinnern sich an den Mord auf dem Feuerwachtturm in Wolfgarten?«
»Natürlich«, meinte Sonja – verwundert, dass er sich daran erinnerte, während sie keine Idee hatte, wo sie ihre Wanderschuhe danach versteckt haben könnte.
»Und trugen Sie sie nicht auch, als Sie den weißen Falken gefunden haben?«
»Wenn Sie mir jetzt noch sagen, welche Farbe sie haben, wäre ich Ihnen dankbar.«
»Braun, nehme ich mal an.«
»Und wo stehen sie?«
»In Ihrem Abstellraum unter der Stiege.«
»Danke.«
»Sie haben dem Land NRW mindestens 150 Euro erspart, Herr Oberstaatsanwalt«, meinte Roggenmeier prustend und verschluckte sich.
Sonja hatte nicht übel Lust, Wesseling zu fragen, wo der blaue Schal war, den sie seit Ewigkeiten suchte. Aber dann besann sie sich auf den Grund ihres Hierseins. »Und falls es stimmt, was der Herr Oberstaatsanwalt sagt, was soll ich dann tun?«
»Halten Sie sich bereit«, sagte Roggenmeier, »für den Moment, in dem das Ungeheuer unseren Bezirk betritt.«
»Um mir das zu sagen, musste ein Oberstaatsanwalt anreisen?«
»Er war zufällig
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