Tote gehen nicht
noch nicht sicher, welche der Thesen zutraf. Vielleicht alle vier.
»Was hättet ihr getan, wenn ihr was gewusst hättet?«, nahm Sonja den Faden auf, öffnete ihr Zigarettenetui und steckte sich einen Strohhalm zwischen die Lippen.
»Wir hätten es abgelehnt, in der Soko Eifelsteig mitzuarbeiten«, antwortete Neugebauer.
Brummer nickte bestätigend.
»Zu spät, meine Herren, mitgefangen, mitgehangen. Aber ich kann euch beruhigen, ich habe alles im Griff.«
Sie ließen von ihren Kaffeetassen ab und blickten belustigt hoch.
»Ich sage nur: Tai Chi.«
Neugebauer hob die Fäuste und boxte gegen einen Schatten. Brummer faltete die Hände und verbeugte sich.
»Sehr witzig.« Sonja schüttelte den Kopf. Sie hatte erst heute Morgen, lange bevor der unglaubliche Anruf des Hoteliers sie via Roggenmeier erreichte, in frischer, klarer Mailuft trainiert und voller Stolz festgestellt, dass ihre Bewegungen jeden Tag ein wenig fließender wurden, dass sie nur noch selten im Handbuch nachsehen musste und öfter im Takt der Musik blieb, jenem perlenden Kling-Klang-Klong, das bereits den Pawlowschen Effekt bei ihr auslöste.
»Brummer und ich waren gestern in Euskirchen«, begann Neugebauer. »An seinem Arbeitsplatz in der Klinik am Wald . Dr. Edgar Schramm hat bis zum 20. Mai Urlaub. Also noch sechs Tage. Er geht bestimmt nicht schon heute zurück nach Einruhr«, glaubte Neugebauer und schüttelte den Kopf. »Da wäre er schön blöd.«
»Genau. Da kommt er doch her«, ergänzte Brummer
»Eben«, stimmte Sonja zu.
»Ich bin mir ziemlich sicher«, fuhr Neugebauer fort, »dass er jetzt auf dem Weg nach Kloster Steinfeld ist. Wenn er vorgestern die dritte Etappe von Monschau nach Einruhr ging, gestern die vierte Etappe von Einruhr nach Gemünd, dann ist heute die fünfte Etappe dran. Gemünd-Steinfeld.«
»Hört sich logisch an«, meinte Sonja. »Habt ihr auch Angehörige oder Nachbarn oder Freunde aufgetrieben?«
»Teilweise«, brummte Brummer. »Sein direkter Nachbar weiß zwar, dass er bis zum 20. Mai verreist ist, weil er sich um den Briefkasten kümmert, er weiß aber nicht, wohin Schramm gefahren ist. Edgar Schramm hat keine Ehefrau, keine Freundin, nicht viele Freunde, aber noch Familie in Schleiden. Die Eltern wissen aber nicht, wo ihr Sohn sich aufhält, sie haben wenig Kontakt zu ihm. Sie haben noch zwei weitere Söhne. Der älteste heißt Bernd und wohnt in den Staaten, der jüngste heißt Guido und wohnt ebenfalls in Schleiden. Der ist zur Zeit auch verreist. Er macht angeblich eine Kreuzfahrt. «
»Der hat’s gut«, meinte Neugebauer.
»Das kann man wohl sagen«, meinte Sonja.
Die drei Kommissare gaben sich eine Weile ihren Träumen hin. Ihre Mienen hellten sich auf. Ihre Mundwinkel hoben sich. Es schien, als glitten kleine, wellenförmige Bewegungen über sie.
Brummer war der Erste, der in die Realität zurückkehrte und sagte: »Obwohl die Eltern sich fragen, wie er sich so eine teure Reise leisten kann.«
Sonja und Neugebauer träumten noch. Brummer ließ sie gewähren.
»Ihr seid noch immer hier?«, rief Sonja nach einer Gedenkminute.
»Wie meinen?«, fragten beide entsetzt.
»Lauft hinter Schramm her, aber flott!« Sie sah auf die Uhr. Es war 11 Uhr 30. »Er ist heute morgen um 8 Uhr losgegangen, wie Thelen sagt, bis Steinfeld sind es ...«
»17,5 Kilometer«, meinte Neugebauer.
»Dafür braucht man ...«, Sonja wollte gerade einen ganzen Tag sagen, als Neugebauer sie unterbrach: »Er ist schon da.«
»Schade«, brummte Brummer.
»Schade? Ruft alle Hotels in Steinfeld an.«
Kloster Steinfeld war ein winziger Weiler in der Eifel, der vornehmlich aus dem Salvatorianerkloster bestand. Übernachten konnte man laut Internet nur im Gästehaus des Klosters oder im Hotel Margaretenhof.
In keinem der beiden Häuser hatte sich Dr. Edgar Schramm für die kommende oder eine andere Nacht angekündigt. Auch kein Martin Sonntag. Da die Zimmer in den Hotels in Einruhr und Gemünd lange im Voraus gebucht worden waren, konnten die Kommissare also davon ausgehen, dass Schramm nicht vorhatte, unangemeldet in Steinfeld zu übernachten.
»Man könnte mal in Blankenheim nachfragen«, schlug Brummer vor.
Sonja lachte. »Blankenheim? Kein Mensch geht zwei Etappen auf einmal. Das wäre glatter Masochismus. Wenn Steinfeld nur diese zwei Übernachtungsmöglichkeiten hat, kommt er vielleicht irgendwo in der Nähe unter. Vielleicht in ...«, Sonja beugte sich über die Wanderkarte und fuhr mit dem Finger den
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