Tote gehen nicht
abwartenden, lauernden Stille glaubte Edgar hinter sich ein dumpfes Getrappel zu hören, als trabe eine Rotte Wildschweine hinter seinem Rücken durchs Dickicht. Sein Blick schweifte suchend umher. Die Viecher blieben unsichtbar, zu weit entfernt oder nur Einbildung. Vielleicht war es der Nebel, der jede Bewegung verschluckte.
Guido nutzte die Ablenkung als Chance. Er ergriff Edgar an beiden Armen und wälzte ihn auf den Rücken, sodass er sich auf ihn setzen und die Rollen vertauschen konnte. Er beugte sich über seinen Bruder und legte ihm die Hände um den Hals. Der Druck war maßvoll, aber so würde er nicht bleiben.
»Hast du wirklich die beiden Frauen umgebracht oder nicht?«
»Ich?«, stieß Edgar verdattert hervor und versuchte Guidos Finger zu lösen.
»Beide?«, zischte Guido wütend.
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst!«
»Das wird dir helfen, dich zu erinnern«, sagte Guido und drückte fester zu.
Edgars Gesicht verfärbte sich. Er begann zu husten. »Lass mich los, du bringst mich um!«, röchelte er.
Ein Knall.
Ein Echo.
Ein Schrei.
Ein Echo.
Guido kippte zur Seite, wimmerte und wälzte sich hin und her. Dann kniete er sich hin, stützte sich auf die Ellbogen, versenkte sein Gesicht im Staub und streckte den Hintern in die Höhe.
Seine Schreie erweckten in Edgar einen Rest von Bruderliebe. Er sprang auf und stellte fest, dass Guidos Hosenboden zerfetzt war. Die bunte Boxershorts darunter ebenfalls und ihr Hawaii-Muster um einen hellroten Streifen bereichert. »Nicht schlimm, nur ein Streifschuss«, tröstete er seinen Bruder und schlug ihm auf die andere Hinterbacke.
Guido jaulte auf.
»Stell dich nicht so an«, Edgar blickte sich um. Der Schütze war längst zwischen den Baumstämmen verschwunden.
Aber am Waldrand stolzierte hochnäsig eine schwarze Krähe entlang. Ihr Gefieder glänzte wie Lack. Edgar klatschte nervös in die Hände. Sie machte auf der Klaue kehrt und stolzierte den gleichen Weg zurück. Ihre Augen blitzten voller Heimtücke. Ihr Schnabel ging auf und zu, aber es kam kein Laut heraus. Edgar brüllte: »Verpiss dich!« Er warf einen Stein. Sie flog davon. Es war bereits das dritte Mal, dass eine Krähe in seine Nähe kam, wenn Gefahr drohte, die dritte Krähe, oder war es immer dieselbe?
»Wer war das?«, jammerte Guido.
»Willst du Namen und Adresse?«, fragte Edgar und fixierte als Nächstes die Pfütze, in die er das Gerät versenkt hatte. Er bückte sich und begann kleine Kreise im Regenwasser zu ziehen. Mit spitzen Fingern holte er das Gerät an Land und begutachtete es vorsichtig, als könne es jeden Moment explodieren.
»Oder bist du zum Selbstmordattentäter geworden?«
Guido jammerte vor sich hin, anstatt zu antworten.
Edgar nahm das Gerät hoch. »Wer hat dir das angeklebt?«
»Wir!«
Edgar fuhr zusammen und blickte geradewegs in den Lauf einer Pistole. Und in den einer zweiten daneben. Seine Hand ließ das Gerät fallen, es landete wieder in der Pfütze.
»Aufstehen!« Hinter Guidos Kopf waren, wie aus dem Nichts, zwei Männer mit unerbittlichen Mienen aufgetaucht.
»Endlich!«, wimmerte Guido und stellte sich unter Ächzen und Stöhnen auf seine Füße, strich sich den Staub von den Händen und legte sie dann beide anklagend auf seinen Hintern. Er schien die Männer zu kennen und auch erwartet zu haben, so kam es Edgar vor. Dann waren sie es also gewesen, die ihn verkabelt hatten. Dann waren sie Polizisten.
Mit ihren Pistolen fuchtelnd, dirigierten die beiden Männer Edgar ein paar Schritte weiter zu einem einzeln stehenden Baum, einer großen, aber noch jungen Fichte, deren Zweige erst in großer Höhe begannen. Einer der Männer zog einen Kabelbinder aus der Hosentasche und band Edgar an den kahlen Stamm wie einen Indianer an den Marterpfahl. Seine Hände klebten am Harz, seine Haut schrammte über die raue Rinde.
»Wer sind Sie überhaupt?«, rief er hilflos.
Anstatt ihm zu antworten, band der Mann Guido an einen gegenüberliegenden Baumstamm an. Aber mit dem Gesicht zum Stamm, um seinen lädierten Hosenboden zu schonen.
»Was soll das denn?«, beschwerte sich Guido und wehrte sich. »Ich bin doch Ihr Mann, oder?« Die Männer lachten. »Ich dachte, Sie wollten mich schützen?« Die Männer lachten weiter. »Und eingreifen. Mein Bruder hätte mich beinahe umgebracht, und dann wäre ich auch noch fast erschossen worden.«
»Augen auf!«
Die Männer hielten Edgar ihre Ausweise unter die Nase. Durch die fleckigen Gläser seiner Brille las
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