Tote gehen nicht
in den Untergrund. Wenn Sie mir nicht glauben, da hinten steht die dazugehörige Infotafel.«
Neben der Infotafel saß ein Mann auf einer Bank und schien zu schlafen. Sein Kinn lag auf der Brust. Die Arme hingen schlaff über die Lehne ausgebreitet, die Beine lagen lang ausgestreckt, die Hacken in den Boden gerammt, einen großen Rucksack zwischen den Füßen. Eine Wasserflasche neben sich. Ein müder Wandersmann.
Aber irgendetwas stimmte hier nicht. Edgar spürte eine Anspannung in der Luft, als stehe er in einem magnetischen Feld. Die Idylle war keine.
Ein Schrei.
Er ließ Sonjas Hand los. Ein Blick in den Himmel. Weit oben auf dem höchsten aller Baumwipfel hockte eine schwarze Krähe mit weit aufgerissenem Schnabel. Die vierte Krähe, wenn es nicht immer ein und dieselbe war. Edgar fühlte sich gewarnt und dennoch erschrak er beinahe zu Tode über den nächsten Schrei, der hautnah war und nicht von oben kam.
Sonja Senger lag mit hochrotem Kopf strampelnd am Boden, ihre Sonnenbrille saß schief, der Südwester hing an der Kordel um ihren Hals. Ein Teleskop-Stock war weggerollt, den anderen, fest verbunden an ihrem Handgelenk, konnte sie nicht einsetzen, weil ihre beiden Hände auf den Boden gepresst wurden.
Von der Person, die sie zu Fall gebracht hatte und auf ihr lag, konnte Edgar nicht viel mehr als Hinterkopf und Rücken und die langen, dünnen Beine sehen und wusste doch sofort, dass sie es war, die vom Himmel gefallen war:
Rita.
Drüben auf der Bank saß noch immer der schlafende Mann, wie eine Schaufensterpuppe. Edgars Blicke flogen von ihm zu den beiden kämpfenden Frauen neben ihm am Boden.
»Hilfe!«, schrie er, ehe er seinen Rucksack wegwarf und begann, mit seinem Wanderstock auf Rita einzudreschen.
»Hilfe!«
Es kam ihm fast gespenstisch vor, dass auf sein Rufen hin ein Geknatter am Himmel ertönte und lauter wurde, ein Hubschrauber zwischen den Wolken aufkreuzte und begleitet von heftigen Böen zur Landung im Lampertstal ansetzte. Edgar hatte keine Zeit mehr zu sehen, wer dem Hubschrauber entstieg, denn der Lärm hatte auch den Mann von der Bank aus seinem langen Traum geweckt. Er sprang endlich auf, torkelte noch etwas vor Müdigkeit, entdeckte Sonjas Teleskop-Stock, langte danach und begann damit auf den Falschen einzudreschen. Edgar versuchte ihm auszuweichen und fiel Rita in die Hände. Ihre Bewegungen waren schnell und glatt wie die einer Schlange. Sie trat und boxte. Sie drehte und wand sich. Sie biss und kratzte. In einer Hand blitzte eine schmale Klinge auf. Edgar spürte einen Stich im Handgelenk, zuckte zurück, sah Blut fließen und gleichzeitig aus den Augenwinkeln zwei Männer mit einem Satz auf den Weg springen, wie die Hirsche. Sie hoben die Arme und zielten, Pistolen in den Händen, Finger auf dem Abzug.
»Hände hoch!«
Edgar ließ den Wanderstock fallen, der Mann von der Bank den Teleskop-Stock. Rita und Sonja rappelten sich auf.
Bei seinen beiden Rettern handelte es sich um Neugebauer und Brummer, stellte Edgar erleichtert fest, seine Bodyguards, die dem Hubschrauber entsprungen sein mussten, der schon wieder in die Luft gestiegen war. Obwohl der Hubschrauber allgegenwärtig gewesen war, hatte Edgar die beiden nicht darin vermutet. Nach diesem Einsatz würde er ihre Namen nicht mehr vergessen.
»Hintereinander!«
Alle gehorchten ihnen, stellten sich mit gereckten Armen hintereinander in einer Reihe auf, Edgar, der Fremde und Rita. Nur nicht Sonja Senger, die sich wimmernd den Südwester auf den Kopf und die Sonnenbrille auf die Nase setzte und, auf einen ihrer Teleskop-Stöcke gestützt, der nun reichlich verbogen war, zur Bank humpelte. Vorsichtig setzte sie sich auf den Rand der Sitzfläche und ließ das rechte Bein durchhängen.
»Fallen lassen!«, schrie Neugebauer Rita an.
Sie öffnete ihre rechte Hand, und eine schmale, blinkende Klinge fiel klirrend zu Boden. Kein Messer war es, sondern ein Skalpell. Brummer nahm es mit spitzen Fingern auf und legte es auf die Bank. Sonja Senger wickelte es vorsichtig in ein Papiertaschentuch und ließ es in ihrer Jacke verschwinden.
Edgar legte den Kopf in den Nacken und sah, wie ein Blutstreifen an seinem rechten Handgelenk entlangrann, über und in den Ärmel hineinquoll. Zu viel Blut, viel zu viel, dachte er, um von einer kleinen Schnittwunde zu stammen. Ihm wurde schwindlig. Er spürte, wie ihm die Beine wegsackten, und er fiel. Kurz darauf kontrollierte er den düsteren Himmel über sich.
»Edgar!«, rief Rita. »Ich
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