Tote Hunde beißen nicht: Bröhmann ermittelt wieder (German Edition)
Wind …»
So laut und beseelt ich kann, schmettere ich diese Zeilen durch den Keller.
«Wie eine Puuuuppe, die keiner mehr mag, fühl ich mich an manchem Taaag …»
Auf jetzt, zweite Strophe … Erstaunlich, wie textsicher ich bin. Schließlich war ich erst zehn, als Nicole den Grand Prix gewann.
«Dann seh ich die Wolken, die über uns sind, und höre die Schreie der Vögel im Wind …»
Und ich höre keinen Schuss, auch wenn ich jeden Moment damit rechne. Doch im Nachbarkeller bleibt es still. Bei der nächsten Zeile kommt das Pathos von ganz alleine in meine Stimme:
«Ich singe aus Aaaangst vor dem Dunkeln mein Lied …»
Ja, das tue ich.
«… und hoffe, dass nichts geschieht.»
Das hoffe ich allerdings.
«Hör auf damit», schreit Fichtenau plötzlich von drüben dazwischen. «Hör auf!»
Und nun der Refrain:
«Ein bisschen Frieden, ein bisschen Sonne, äh Freude, für diese Erde, auf der wir wohnen …»
Kirsten Gruber hatte mehrfach in ihrem Tagebuch geschrieben, «Ein bisschen Frieden» sei ihr absolutes Lieblingslied. Selbst im wiedervereinigungsbesoffenen Weltmeisterjahr 1990 , in dem unbescholtene Bürger massenhaft zu «Wind of Change» mitpfiffen, war es nicht gerade üblich, dass 18 -jährige Mädchen Nicole hörten.
«Ein bisschen Frieden, ein bisschen Freude, ein bisschen Wärme, das wünsch ich mir.»
Mein Vater starrt mich mit offenem Mund an. Viel hat er ja noch nie von mir gehalten, doch das muss ihm jetzt endgültig den Rest geben. Plötzlich aber richtet er sich aus seiner Liegeposition auf, hustet kurz und stimmt, wenn auch nicht ganz so textsicher, ein:
«Ein bisschen nana, ein bisschen nmmhh, lalala Menschen dididi … weinen, ein bisschen …iden, ein bisschen Liebe, … Hoffnung … määähr verliern.»
Immer noch kein Schuss. Hält mein Gesinge Fichtenau tatsächlich davon ab, auf Andreas Burgholtz zu schießen? Entschlossen singe ich weiter.
«Ich weiß, meine Lieder, die ändern nicht viel, ich bin nur ein äh Mädchen, das sagt, was es füüüühlt.»
Ich nicke meinem Vater zu und ermuntere ihn zum unverdrossenen Mitsingen. Denn: «Allein bin ich hilflos, ein Vogel im Wind, der spürt, dass der Sturm beginnt.»
Ja, das spürt er, der Vogel.
Während mein Vater und ich das zweite Mal furchtlos den Refrain schmettern und ich mich sogar mitunter kühn an einer zweiten Stimme versuche, höre ich in den kurzen Atempausen ein Wimmern. Ich mag es kaum glauben, es scheint zu wirken. Doch nun gilt es; jetzt, wo es auf den kompositorischen Höhepunkt zusteuert, an dem Ralph Siegel alles ausgepackt hat, was möglich war, lege auch ich alles, was ich habe, in meine Stimme:
«Siiiing mit mir ein klaheiiines Lied, daaass die Wäääählt im Früüüden lebt.»
Die ganze Welt im Frieden bräuchte es für den Moment aus meiner Sicht gar nicht. Mir würde es reichen, wenn es in diesem Vogelsberger Keller etwas friedfertiger zuginge. Doch solange hier keine Schüsse fallen, solange wir hier alle noch am Leben sind, so lange singe ich, wenn es sein muss, endlos «Ein bisschen Frieden». Jedenfalls befinde ich mich schon wieder in der zweiten Strophe. Sollte ich jemals hier rauskommen, dann werde ich in Facebook auf Nicoles Fan-Seite «Gefällt mir» drücken.
Irgendwann während des vierten Durchgangs heult Fichtenau dazwischen:
«Warum singst du das, Mann?»
Ich stoppe. Auch mein Vater bricht ab.
«Ich hab es doch gesagt», brülle ich hinüber. «Ich kannte Kirsten. Sie hat mir gesagt, wie sehr sie dieses Lied liebt.»
Kurze Stille. Dann höre ich draußen Schritte.
«Herr Burgholtz?», rufe ich.
«Ja.» Er lebt tatsächlich noch.
Fichtenau öffnet unsere Tür, bleibt im Rahmen stehen und schaut mich eine Weile stumm an.
«So, du kanntest sie?»
«Jaha, und ich weiß, dass sie ein riesiger Nicole-Fan war. Darüber haben wir uns oft unterhalten, denn ich bin auch einer …»
«Hmm.»
«Jaaa, ich liebe Nicole. Auch die anderen Lieder sind genial, wie zum Beispiel, äh, na ja … eben alle.»
«Ich hasse Nicole, Mann!»
«Was? Ja, klar, ich äh auch … manchmal.»
«Fresse, Mann!»
«O.k., Fresse, einverstanden.»
Fichtenau legt nun erstmalig seit ich hier unten Gast bin seine Waffe aus der Hand und setzt sich neben mich auf den Boden, dessen Feuchte schon seit einiger Zeit meine Unterhose erreicht hat.
«Was hat sie noch so erzählt», fragt er, «die Kirsten?»
Ich erzähle ihm nun aus ihrem Leben. Von allem, was ich aus den Tagebucheinträgen
Weitere Kostenlose Bücher