Tote im Salonwagen
Eintritt: 15 Kopeken. Billetts in begrenzter Anzahl.
Ein Schneeball traf den Staatsrat in den Rücken. Verdutzt wandte Fandorin sich um und sah einen leichten zweisitzigen Pferdeschlitten am Bordstein stehen. Auf der samtüberzogenen Sitzbank, lässig auf die geschwungene Lehne gestützt, das schwarzäugige Fräulein im Zobelpelz.
»Steig ein«, sprach das Fräulein.
»Petzen gewesen bei Seiner Erlaucht, Mademoiselle Litwinowa?« erkundigte sich Fandorin mit aller verfügbaren Giftigkeit.
»Erast, du bist nicht gescheit«, erklärte sie knapp und bündig. »Halt bloß den Mund, sonst streiten wir uns gleich wieder.«
»Und wie lautet der weise Rat Seiner Erlaucht?«
Esfir seufzte.
»Weiser als Du glaubst. Ich werde ihn unbedingt befolgen. Nur nicht jetzt. Später.«
Vor Betreten des großen Gebäudes am Twerskoi Boulevard, das jeder Moskauer kannte, hielt Fandorin einen Moment lang inne. Widersprüchliche Gefühle bewegten ihn. Die Ernennung, von der so lange die Rede gewesen war und an die er selbst schon nicht mehr geglaubt hatte, wurde Wirklichkeit.
Eine halbe Stunde war es erst her, daß ein Kurier bei Fandorin geläutet und dem im Morgenmantel heraustretenden Staatsrat mit einer Verbeugung mitgeteilt hatte, sein unverzügliches Erscheinen im Polizeipräsidium sei erbeten. Diese Einbestellung konnte nur bedeuten, daß des Generalgouverneurs gestrige Depesche an die allerhöchste Adresse ihre Wirkung nicht verfehlt hatte – und dies schneller, als man glauben mochte.
Rasch und so geräuschlos wie möglich hatte Fandorin die Morgentoilette vorgenommen, Uniform und Orden angelegt, den Degen angeschnallt – das zu gewärtigende Ereignis verlangte die Einhaltung gewisser Formalitäten – und war, mit einem Blick zurück zur angelehnten Schlafzimmertür, auf Zehenspitzen in die Diele geschlichen.
Karrieretechnisch gesehen, bedeutete die Beförderung zur zweitwichtigsten Amtsperson in der alten Metropole des Russischen Reiches einen Aufschwung in geradezu himmelhohe Gefilde: obligatorische Generalswürde, weitestreichende Vollmachten, erkleckliches Gehalt – und beste Aussichten auf noch schwindelerregendere Höhen. Der Weg dorthin hatte allerdings auch seine Schattenseiten, wozu Fandorin in erster Linie den vollständigen Verzicht auf jegliche Privatsphäre zählte. Die Residenz, in der der Polizeipräsident zu wohnen hatte, war pompös, ungemütlich und obendrein direkt mit der Kanzlei verbunden. Es gab eine Vielzahl offizieller Veranstaltungen, wo er nicht nur pflichtgemäß teilzunehmen,sondern im Mittelpunkt zu stehen hatte. (So beispielsweise demnächst, am dritten Fastensonntag, wenn die Gesellschaft zur Förderung der allgemeinen Abstinenz unter dem Patronat des obersten Gesetzeshüters der Stadt festlich ins Leben gerufen werden würde.) Und nicht zuletzt hatte er den Moskauer Philistern ein Musterbeispiel an Sittlichkeit vorzuleben, was ihm im Hinblick auf seine derzeitigen persönlichen Verhältnisse nicht leichtfallen würde.
Aus all diesen Gründen mußte Fandorin seinen Mut zusammennehmen, bevor er die Schwelle zum neuen Domizil überschritt, die die Schwelle zu seinem neuen Leben sein sollte. Und wie immer suchte er Trost in einem Satz des großen Weisen: Der Edle kennt seine Pflicht und denkt nicht daran, sich ihr zu entziehen.
Sich zu entziehen kam ohnehin nicht in Frage, zu säumen hatte keinen Sinn, Fandorin holte tief Luft und tat den Schritt über die unsichtbare Linie, hinter der seine neue Dienstzeit zu zählen anfing. Er nickte dem salutierenden Gendarmen zu und legte dem Pförtner seinen Pelz in den Arm, während er den Blick durch das vertraute prächtige Foyer schweifen ließ. Jeden Augenblick mußte die Kutsche des Generalgouverneurs eintreffen. Fürst Dolgorukoi würde seinen Sprößling ins neue Dienstzimmer einführen, ihm feierlich das Siegel überreichen, dazu die Halskette mit der Medaille und den symbolischen Stadtschlüssel, kurz: die Attribute der präsidialen Macht.
»In voller Montur, das finde ich ja rührend!« erklang eine fidele Stimme in seinem Rücken. »Sie wissen es also schon? Und ich dachte, ich könnte Sie überraschen!«
Auf der obersten der breiten vier Marmorstufen stand Posharski, alles andere als feierlich gewandet: in kurzemJackett und karierten Hosen, dafür mit strahlendem Lächeln auf den Lippen.
»Nehme Ihre Gratulation dankbarst entgegen!« verkündete er und tat eine scherzhafte Verbeugung. »Aber die Förmlichkeit finde ich
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