Tote im Salonwagen
wirklich übertrieben. Darf ich Sie ins Kabinett bitten? Ich muß Ihnen etwas zeigen.«
Erast Fandorin verriet sich mit keiner Geste. Da er indes an einem Spiegel vorbeikam und die Orden und goldenen Tressen an seiner Uniform gleißen sah, fühlte er, wie ihm die Schamröte über seinen Irrtum ins Gesicht stieg. Will die Welt rabenschwarz erscheinen, sucht der Edle nach einem weißen Fleck! kam ihm der große Weise mit einer klugen Sentenz zu Hilfe. Der Staatsrat strengte sich an, und der weiße Fleck ward gefunden: Nun mußte er wenigstens nicht der allgemeinen Abstinenz präsidieren.
Stumm war Fandorin Posharski in das Kabinett des Polizeipräsidenten gefolgt, in der Tür blieb er stehen, wußte nicht, wo Platz nehmen: Diwan und Sessel waren mit Schonbezügen abgedeckt.
»Pardon, ich bin noch nicht dazu gekommen, mich einzurichten. Kommen Sie hierhin!« lud Posharski ein, während er den Diwan vom weißen Leinen befreite. »Das Telegramm über meine Ernennung kam heute in aller Frühe. Aber das ist für Sie nicht das Entscheidende. Sondern das hier: Eine Presseerklärung aus Petersburg für die Moskauer Zeitungen. Soll am 27. erscheinen. Dolgorukoi ist ein entsprechender persönlicher Erlaß zugegangen. Lesen Sie.«
Fandorin nahm das Telegrammformblatt mit dem Aufdruck Streng geheim! entgegen und überflog den langen, aus vielen dicht untereinandergeklebten Papierstreifen bestehenden Textblock.
Heuer, zum hohen Feste des Geburtstags Seiner Majestät, unseres hochheiligen Imperators, ward unsere Stadt von seiner ganz besonderen Gnade beglückt: Rußlands Allerhöchster Gebieter hat die altehrwürdige Reichsmetropole unter die Verfügungsgewalt Seines leiblichen Bruders, Großfürst Simeon Alexandrowitsch, gestellt und selbigen zum Generalgouverneur von Moskau ernannt.
In dieser Ernennung liegt ein tiefer historischer Sinn. Ist es der Stadt Moskau doch auf solchem Wege vergönnt, eine neue, innige Verbindung zum Kaiserhause, zur Dynastie Russischer Zaren einzugehen. Die jahrhundertealten geistigen Bande zwischen dem Oberhaupt des russischen Volkes und seiner alten Metropole gewinnen neue, sichtbare Gestalt, was dem stolzen Blick des Volkes auf sich selbst nicht anders als zum Guten dienen kann.
Kraft des heutigen Ratschlusses hat es Seiner Kaiserlichen Hoheit wohlgefallen, Moskaus Rang eines nationalen Heiligtums zu bestärken, indem er ihm keinen Geringeren als Seinen leiblichen Bruder zum Vormund erkor.
Für immer in Erinnerung bleiben wird den Moskauern die unvergleichliche Nähe und Zugänglichkeit, die den Vorgänger im Amte, Fürst Wladimir Andrejewitsch, auszeichnete, seine herzliche Liebenswürdigkeit, mit der er allen Hilfesuchenden begegnete, die Energie, mit der er …
»Sind Sie schon bei der Nähe und Zugänglichkeit?« fragte Posharski, der es anscheinend nicht erwarten konnte, mit dem Staatsrat ins Gespräch zu kommen. »Sie müssen gar nicht zu Ende lesen, weiter unten wird es uninteressant. Ja, so sieht’s aus, mein lieber Fandorin. Ihr Patron hat ausgespielt. Und es ist an der Zeit, daß wir beide ein offenes Wort miteinander reden. Vom heutigen Tage an wird diese Stadt sich grundlegend ändern. Ein Moskau wie zu Zeiten Ihres guten altenWladimir wird es nie wieder geben. Die Zentralmacht wird sich fest und unerschütterlich etablieren und auf jede Art ›Zugänglichkeit‹ von vornherein verzichten. Ihr Chef, der Alte, hat den wahren Charakter der Macht nicht begriffen, hat ihre rituellen Funktionen von den praktischen nie zu unterscheiden vermocht, und so ist Ihre Stadt in der alten Patriarchalität steckengeblieben, außerstande, sich auf die Zukunft zuzubewegen.«
Wie der Fürst jetzt redete, wirkte er ernsthaft, resolut und unerschütterlich. So wie er vielleicht wirklich war, wenn er nicht gerade heuchelte und intrigierte.
»Die heilige Ordnung wird in Moskau künftig von Seiner Hoheit repräsentiert, den ich als meinen Gönner betrachten darf und dessen Interessen ich hier von Anfang an vertreten habe, das kann ich nunmehr ganz unverhohlen zugeben. Der Großfürst ist eine eher träumerische Natur mit besonderen Neigungen, wie Ihnen schon zu Ohren gekommen sein dürfte.«
Fandorin hatte Gerüchte gehört, denen zufolge Simeon Alexandrowitsch eine Vorliebe für gutaussehende Adjutanten besaß; ob es das war, was Posharski meinte, schien nicht ganz klar.
»Aber das nur nebenbei«, fuhr dieser fort. »Entscheidend ist, daß Seine Hoheit sich in Dinge, die jenseits von Ritual
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