Tote im Salonwagen
letzten Worte sprach Posharski mit besonderem Nachdruck und hielt noch dazu einen Moment inne, um sie auf die Anwesenden wirken zu lassen. »Zeit ist kostbar, meine Herren. Gestern abend, als Ihre Depesche bei uns einging, war ich glücklicherweise in meinemKabinett. Also Mappe gepackt, Köfferchen geschnappt – ich habe es für unerwartete Dienstreisen immer bereitstehen – und zum Zug geflitzt. Jetzt nehme ich mir zehn Minuten zum Kaffeetrinken und höre mir dazu Ihre Hypothesen an. Anschließend unterhalten wir uns mit dem Gefangenen.«
Ein solches Verhör hatte Fandorin noch nicht erlebt.
»Wozu haben Sie ihn denn angeschnallt wie auf einem elektrischen Stuhl?« fragte Posharski verwundert, als sie den Verhörraum betraten. »Schon gehört davon? Das ist die neueste amerikanische Erfindung. Hier und hier«, er tippte dem Sitzenden auf Nacken und Handgelenk, »werden Elektroden angeschlossen, und dann wird der Strom aufgedreht. Einfach und effektiv.«
»Wollen Sie mir einen Schreck einjagen?« fragte der Delinquent und verzog die zerschrammten Lippen zu einem herausfordernden Grinsen. »Das wird Ihnen nicht gelingen. Ich habe keine Angst vor Folter.«
»Aber ich bitte Sie!« Posharski wunderte sich schon wieder. »Was denn für Folter? Wir sind in Rußland und nicht in China. Lassen Sie ihn losbinden, Oberstleutnant. Das sind ja asiatische Zustände …«
»Dieses Subjekt ist zu allem fähig«, warnte Burljajew. »Man muß damit rechnen, daß er angreift.«
»Na und?« Posharski zuckte mit den Achseln. »Wir sind hier zu sechst, Männer von echtem Schrot und Korn. Das soll er mal versuchen.«
Während die Riemen gelöst wurden, musterte der Petersburger Gast den gefangenen Terroristen mit Neugier. Und auf einmal legte er los: »Mein Gott, Selesnjow, Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich freue, Sie zu sehen. Darfich vorstellen, meine Herren: Vor Ihnen sitzt Nikolai Selesnjow, ein furchtloser Held der Revolution. Derselbe, der voriges Jahr im Sommer Oberst von Bock erschossen hat und dann mit Blitz und Donner aus der Gefängniskutsche getürmt ist. Ich habe ihn aus Ihrer Beschreibung sofort erkannt. Brauchte bloß noch die Akte einzupacken und mich auf den Weg zu machen. Sechshundert Werst sind keine Entfernung, um einen alten Bekannten wiederzusehen.«
Schwer zu sagen, bei wem diese Mitteilung stärkere Wirkung hinterließ: bei den verdutzten Moskauer Ermittlern oder bei dem Arrestanten, dessen Gesicht zu einer dümmlichen Miene gefror – das Grinsen noch auf den Lippen, die Augen vor Schreck aufgerissen. Und energisch, ohne sich zu bremsen, führte der Fürst seinen Vorstoß fort.
»Oberst Posharski, Vizedirektor im Polizeidepartement, wenn Sie gestatten. Insofern Sie mittlerweile der Kampfgruppe angehören, hatten wir bereits auf der Apothekerinsel das Vergnügen. Eine unvergeßliche Begegnung … Sie schickt mir übrigens der Himmel, mein Lieber. Ich glaubte schon den Hut nehmen zu müssen, und plötzlich tauchen Sie auf. Ich könnte Sie küssen.«
Hier tat er gar eine Bewegung auf den Arrestanten zu, als wollte er ihm tatsächlich einen Schmatz auf die Stirn setzen, so daß der furchtlose Terrorist sich instinktiv zurücklehnte.
»Ich habe die Zugfahrt genutzt und einen kleinen Artikel verfaßt«, eröffnete Posharski in seinem Schwung ihm als nächstes. »Er heißt:
Kampfgruppe vor dem Ende
. Untertitel:
Ein Triumph der Staatspolizei
. Hören Sie zu
: ›Der heimtückische Mord am unvergeßnen Iwan F. Chrapow wird nicht lange ungesühnt bleiben müssen. Noch ist der teure Leichnam nicht
der Erde übergeben, da gelang es den ermittelnden Organen in Moskau bereits, den hochgefährlichen Terroristen N. S. festzusetzen, welcher umfängliche Aussagen über die Tätigkeit der sogenannten Kampfgruppe gemacht hat, der er persönlich angehört.
‹ Das ließe sich stilistisch noch verbessern, dieser ellenlange Satz zum Schluß, dafür gibt es Zeitungsredakteure. Ich muß nicht weiter vorlesen, der Sinn dürfte Ihnen klar sein.«
Der Arrestant, der also Nikolai Selesnjow hieß, hatte sein Grinsen wiedergefunden.
»Was könnte daran unklar sein! Sie wollen mich bei meinen Genossen unbeliebt machen, das ist alles.«
»Und genau das fürchten Sie mehr als den Galgen, nicht wahr? Kein Politischer, weder im Gefängnis noch in der Strafkolonie, gäbe Ihnen dann noch die Hand. Der Staat müßte Sie gar nicht mehr hinrichten, er könnte sich diese Untat sparen. Sie kröchen von selbst in die
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