Tote Kehren Nicht Zurück
jemanden denken sollte, der seine Halbschwester war. Trotz seiner Herausforderung an Kate, es zu beweisen, zweifelte er nicht an ihrer Verwandtschaft. Er wusste, dass es die Wahrheit war. Die wirklich schlimmen Dinge, die am meisten wehtun, sind in der Regel wahr. Luke ging mit seinem Kaffeebecher zu dem Windsorstuhl, in welchem (obwohl er es nicht wissen konnte) Kate bei ihrem ersten Besuch in jener verhängnisvollen Nacht gesessen hatte. Er ließ den Blick durch die Küche wandern. Sie war in einem geschmackvollen Landhausstil eingerichtet – oder zumindest dem, was Hochglanzmagazine als Landhausstil propagierten. Eine prachtvolle Sammlung von französischen Le-CreusetTöpfen, italienischen Fayence-Tellern, Utensilien und Gerätschaften und jeder nur denkbaren Küchenhilfe, kaum voneinander zu unterscheiden im Dämmerlicht. Ihm kam zu Bewusstsein, dass nichts davon echt war. Niemand hatte je richtig in dieser Küche gekocht, in seinem ganzen Leben nicht, solange er sich erinnern konnte – es sei denn, man zählte Irene mit ihren Gemüsesuppen und leckeren Kuchen. Seine Mutter wich jedem Kochen aus, wenn es irgendwie ging, und das Einzige, was sie in dieser Küche zubereitete, war tiefgekühlte Fertignahrung, die sie in die Mikrowelle schob, wie sie es an diesem Abend getan hatten. Wurst aus dem Delikatessenladen mit Salat und Biskuits waren der Gipfel ihrer kulinarischen Künste, doch die Familie war trotzdem nicht verhungert. Lukes erste Begegnung mit der traditionellen Küche, arbeitsaufwändig gebratenes Fleisch und Gemüse, frisch zubereitet, hatte auf dem Internat stattgefunden. Er erinnerte sich an den Schock, mit dem er seine ersten Teller betrachtet hatte. Haufenweise Gemüse, ekelhaftes Fleisch, graues Kartoffelpüree und dicke, mehlige Soße – er erinnerte sich an den Geschmack und Geruch, als wäre es gestern gewesen. Und diese altmodischen Puddings, alle möglichen Sorten, mit einer Schicht Marmelade darüber und dicker gelber Vanillesoße, alles in großzügigen Portionen! Er hatte so etwas noch nie zuvor gesehen, und es war ihm alles als eine sehr merkwürdige Art erschienen, sich zu ernähren. Luke erhob sich aus dem recht engen Lehnstuhl, brachte seinen Becher zum Spülbecken, ließ Wasser darüber laufen und stellte ihn umgekehrt auf das Ablaufbrett. Anschließend schaltete er die Lampe unter der Dunstabzugshaube aus und machte Anstalten, die Küche zu verlassen. Doch als er mitten in der Küche stand, meinte er Stimmen zu hören. War seine Mutter etwa noch nicht zu Bett gegangen? Oder war Kate nach unten gekommen in der Absicht, genau wie er, fernzusehen? Luke betrat die Dielenhalle, und die Stimmen verstummten urplötzlich. Unter keiner der Türen schimmerte Licht hindurch. Trotzdem überprüfte er das Fernseh- und Mutters Arbeitszimmer. Beide waren leer. Mutters Computer war abgeschaltet. Über der Tastatur lag die Staubschutzhaube aus Plastik. Ihre Papiere und Utensilien waren ordentlich weggeräumt. Sie war ein ordentlicher Mensch. Hatte er sich die Stimmen vielleicht nur eingebildet? Zögernd kehrte er in die Küche zurück und blieb in der Dunkelheit stehen, während er die Ohren spitzte und angestrengt lauschte. Da war es wieder. Ein leises, fernes Murmeln, allerdings nicht im Haus, sondern draußen im Garten! Seine Nackenhaare richteten sich auf. Er verstand keine einzelnen Worte und konnte nicht einmal unterscheiden, ob es Männer oder Frauen waren, die dort redeten, nur das beharrliche leise Murmeln einer verstohlenen Unterhaltung. Er ging zum Fenster, doch draußen war alles dunkel, kein Mondlicht in dieser Nacht, kaum etwas zu erkennen. Luke wünschte sich, er hätte etwas sehen können. Eine abergläubische Furcht stieg in ihm auf, als ihm die alte Geschichte von dem Edelmann und seiner puritanischen Liebsten in den Sinn kam. Einbrecher waren etwas, womit er fertig werden konnte, doch Erscheinungen aus der Vergangenheit waren etwas ganz anderes. Luke riss sich zusammen. Irene Flack mochte an einen solchen Unsinn glauben. Er nicht. Er trat zum nächsten Lichtschalter und drückte ihn herunter. Licht durchflutete den Raum und fiel durch das Fenster nach draußen, wo es breite Bahnen auf den Rasen zeichnete. Der Garten verwandelte sich von einem Augenblick zum anderen von einem schwarzen, undurchdringlichen Etwas in eine von Scheinwerfern erhellte Bühne, mit Büschen, die in geisterhaftes Silber getaucht waren, und Baumstämmen vor einem unheimlichen Hintergrund. Doch nichts
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