Tote Kehren Nicht Zurück
Hintertür, bevor sie nach oben ins Schlafzimmer ging. Sie hatte noch nicht lange gelegen und las immer noch, auf ihr Kopfkissen gestützt, in einem Krimi aus der Leihbücherei, als sie den Schrei hörte. Es war gerade eine spannende Stelle, und Irene war völlig in die Geschichte vertieft, doch nun schrak sie zusammen und setzte sich ruckhaft auf. Sie sah auf die Nachttischuhr. Zehn war gerade vorbei. Hatte sie sich den Schrei nur eingebildet? Nein, wohl kaum. Es war definitiv ein Schrei oder ein Ruf gewesen, nicht ganz nah, jedoch auch nicht allzu weit entfernt. Sie strengte ihre Ohren an, doch er wiederholte sich nicht. Sie fragte sich, ob der Schrei von der jungen Frau stammte, der sie unterwegs begegnet war, doch es hatte nicht wie ein Frauenschrei geklungen. Hätte es nach einem Frauenschrei geklungen, wäre Mrs Flack sofort aus dem Bett gesprungen und hätte die Polizei alarmiert. Doch es war ein sehr merkwürdiger Schrei gewesen, und sie war gar nicht sicher, ob er nicht von einem Tier stammte, beispielsweise einem Fuchs. Füchse waren nachts unterwegs und stießen merkwürdige Geräusche aus, ein eigenartiges Schreien und Jaulen, ganz besonders während der Paarung, was sie manchmal unverhohlen im Freien taten, draußen im Garten hinter dem Haus, wenn es dunkel war. Mrs Flack fühlte Groll in sich aufsteigen. Zuerst war diese junge Frau, an der sie auf dem Weg nach Hause vorbeigefahren war, einfach vom Erdboden verschwunden, und jetzt dieser Schrei. Ihr Lesevergnügen war dahin. Sie steckte ein Lesezeichen in das Buch und klappte es zu, dann legte sie es auf den Nachttisch. Sie schob die Füße aus dem Bett und tastete nach ihren Pantoffeln. Dann schlüpfte sie in ihren alten Morgenmantel und tappte zu einem der beiden Schlafzimmerfenster. Sie zeigten in verschiedene Richtungen hinaus. Eines nach hinten, auf den schmalen Garten. Dank der permanenten Beleuchtung von Sawyers Tankstelle war es dort niemals ganz dunkel. Der Rasen lag dort wie ein grauer Teppich, auf dem die Büsche dunkle, unförmige Umrisse bildeten. Nichts bewegte sich dazwischen, nicht einmal eine Katze. Irene Flacks Verärgerung wuchs von Minute zu Minute. Sie ging zu dem zweiten, kleineren Fenster in der Stirnwand des Hauses, von wo aus sie ihren eigenen Wagen auf dem unbebauten Grundstück sowie die Tankstelle dahinter sehen konnte. Jenseits der Tankstelle lag Harry Sawyers Bungalow. Kein Licht brannte im Haus. Er wohnte alleine dort. Harry Sawyer war verheiratet, doch seine Frau war mit einem Handelsvertreter für Doppelverglasungen durchgebrannt, was in Irene Flacks Augen nicht nur unmoralisch, sondern darüber hinaus ziemlich unbedacht gewesen war. In ihren Augen hatte ein Mann, der hart arbeitete und ein richtiges Geschäft besaß wie die Tankstelle, einer Frau weitaus mehr zu bieten als ein windiger Vertreter, der tagein, tagaus an fremde Haustüren klopfte in dem Bemühen, den Leuten etwas zu verkaufen, das sich keiner leisten konnte. Der arme Harry Sawyer. Er war darüber hinweggekommen, jedenfalls größtenteils, indem er noch härter gearbeitet hatte als zuvor. Während Irene hinsah, kam Harry aus der Hintertür der Werkstatt seiner Tankstelle und eilte zu seinem Bungalow. Er öffnete die Haustür. Das Licht im Flur ging an, und Irene erhaschte einen kurzen Blick auf Sawyers alten Hund, der seinen Herrn schwanzwedelnd begrüßte, dann schloss sich die Tür. Er hatte schon wieder bis spät in die Nacht gearbeitet, der arme Mann, und keine Frau im Haus, die ihm einen Tee gemacht oder ein Abendessen aufgetischt hätte. Irene schüttelte missbilligend den Kopf, während sie sich abwandte und in ihr warmes Bett zurückkehrte. Der
»Schrei« war, so sinnierte sie, wahrscheinlich gar kein Schrei gewesen, sondern ein mechanisches Kreischen aus der Werkstatt oder das Geräusch der großen metallenen Werkstatttore. Oder, dachte Mrs Flack, falls es doch ein Schrei gewesen war, dann war er aus dem Fernseher nebenan gekommen, der meistens bis spät in die Nacht lief. Die Nachbarn hatten eine Vorliebe für laute Actionfilme und mussten halb taub sein, wenn sie die Lautstärke dermaßen aufdrehten. Irene hatte schon mehrfach deswegen mit ihnen geredet, doch die Antwort war jedes Mal sehr mürrisch gewesen. Das war einer der Gründe, warum sie mit den Nachbarn nicht auskam. Auch sie gehörten zum Clan der alten Mrs Joss, ein Sohn und eine Reihe von Enkeln der Dame am Ende der Straße. Die Josses in Bamford waren keine angenehmen Nachbarn, und
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