Tote Mädchen
Atome miteinander verbinden ... Ja, Sie befinden sich in ihrem Programm. Aber Sie befinden sich auch in einer fassbaren Welt. In einer Uhrwerkwelt.«
»Das weiß ich doch!«, sagte Primavera.
»Ja«, stimmte ich ihr zu. »Das sind doch nichts als große Worte, die nur besagen, dass ihre neuroelektrische Aktivität stärker ist als die eines Menschen; dass die Wirklichkeit für sie nicht dieselbe ist.«
»Iggy, ich habe gesagt, dass ich das weiß!« Sie seufzte. »Gescrambelt wurde ich trotzdem. Also, Doktor: Helfen Sie uns jetzt? Oder warten Sie, bis die Nanobots kommen?«
Die Falten in Toxicophilous’ Gesicht spannten sich. »Du musst mich wirklich hassen.«
»Na ja, Sie haben mich schließlich in einen Scheißroboter verwandelt!« Primavera stand auf und stieß dabei ein paar der museumsreifen Puppen um, die ihrer Existenz zu spotten schienen. »Das Problem ist nur, dass Sie ein Teil von mir sind. Und ich habe es ziemlich satt, mich selbst zu hassen. Titania sagt ...«
»Titania«, fiel ihr Toxicophilous ins Wort, »war nie ein Mensch. Du dagegen ... ich weiß, was ich getan habe. Ich habe dir deine Kindheit genommen. Deine Kindheit und Jugend. Ich habe dir deine Menschlichkeit geraubt!«
»Wer will schon ein Mensch sein?«, entgegnete Primavera.
»Nur wenige von uns, wie mir scheint. Aber es war meine Absicht, meinen Automaten ein quasimenschliches Bewusstsein zu geben. Deshalb habe ich die Matrix geschaffen. Ich habe nach jenem fraktalen Fluchtpunkt gesucht, jenem Punkt komplexer Einfachheit, aus dem spontan Leben entstehen würde. ›Tote Mädchen‹, haben sie gesagt. Nur weil sie nicht um Nukleinsäuren herum gebaut worden waren. Ha! Ihr Bewusstsein bestand aus subatomaren Partikeln, wie das unsere auch. Ja, ich wollte sie zu Menschen machen!«
»Das haben Sie doch«, sagte ich. »Aber ganz so toll ist das nicht gelaufen, habe ich recht?«
»Ich mag andere infiziert haben«, sagte Toxicophilous, »aber ich war auch selbst infiziert. Die ersten Immigranten, die nach der Auflösung der Pax Sovietica nach Großbritannien kamen, waren Intellektuelle, ehemalige Dissidenten, Untergrundschriftsteller, engagierte Dichter. Sie suchten nach neuen Themen, neuen Zielen. Die Schlimmsten von ihnen glorifizierten die alten Dämonen, die einmal mehr ihr Heimatland plagten: Nationalismus, Populismus, die Paranoia des nicht existierenden Feindes ‒ ein Wahnsinn, den sie in Form überkommener Märchen und Bilder heraufbeschworen. ›Die zweite Dekadenz‹ nannten die Kritiker diese Bewegung. Ich war ein Junge, und ihre Geschichten über Hexen, Golems, Vampire und den Ewigen Juden regten meine Phantasie an.«
»Diese Geschichten sind Teil der Wirklichkeit geworden«, sagte ich.
»Was gar nicht so schlecht ist«, fügte Primavera hinzu und zog eine Augenbraue hoch, die so glatt und schwarz war wie ihr Haaransatz.
»Ah«, sagte Toxicophilous, »aber Geschichten über Hexen enden stets mit dem Scheiterhaufen, und Vampire werden immer gepfählt. Ich habe die Lilim geschaffen, aber ich habe auch den Tod über die Welt gebracht ...« Eine Träne hing an seiner Nasenspitze, fiel herab und klatschte auf das Spielzeugpiano.
»Gütiger Himmel«, sagte Primavera. »Und ich schleppe diesen Kerl in mir herum!« Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Hören Sie auf! Sie sind schon seit Jahren tot. Kein Mensch erinnert sich mehr an Sie! Wir wissen nicht einmal, wie Sie wirklich heißen ...« Sie trat auf Piano und Pianistin und zerstörte sie in einer Orgie von Chromatismen. »Sie können uns nicht alle pfählen. Wir werden die Herrschaft über die Welt an uns reißen, genau wie Titania sagt. Habe ich recht, Iggy?«
»Ja klar.«
»Die Welt«, sagte Toxicophilous, »wird zum Phantasiegebilde eines kleinen Jungen werden. Zum Traumgespinst eines morbiden Kindes.«
»Nennen Sie es, wie Sie wollen«, sagte Primavera, »es wird meine Welt sein. Die Welt der Lilim. Vielleicht halte ich mich an Ihre Regeln. Das ist mir egal. Ich bin immer noch ich .«
»Deine Welt. Du meinst jenen anderen Ort? Den Ort, den du als ›Realität‹ bezeichnest?« Toxicophilous schaute zum Fenster hinaus. »Mir gefällt es hier. Es ist ruhig. Friedlich. Hier, im Herzen der Matrix. Diese Uhrwerkwelt, diese neuroelektrische Welt, diese Welt zwischen null und eins ist für dich die Realität, Primavera. Diese Welt, die unvorhersehbar ist, unbestimmt ... Diese Welt der Magie. Und des Todes.«
Morgenstern verließ seinen Platz an der Tür und trat in die
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