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Tote Pracht

Tote Pracht

Titel: Tote Pracht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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scharfen Chili
oder wegen Raes Bemerkung. »Was soll das heißen? Was fehlt Willie überhaupt? Er
sieht komisch aus.«
    Nun grinste auch Rae. »Willie mußte
sich heute morgen vier Weisheitszähne ziehen lassen. Er hat mich jede Stunde
angerufen, um mir zu erzählen, wie schlecht es ihm ging, und morgen wird das
wohl nicht anders sein. Er ist heute abend nicht sehr gesprächig; weil er
nichts essen konnte, hat er statt dessen getrunken.«
    »Heißt das, daß er uns nicht einmal die
neuesten Werbespots aus der Juwelenbranche Vorspielen kann?«
    »Genau.«
    »Gott sei Dank.« Willie ist sein
Fernsehruhm ein bißchen zu Kopf gestiegen, und er spielt vor aufmerksamem
Publikum gerne seine eigenen Werbespots nach.
    Wir gingen zurück ins Wohnzimmer, und
ich nahm meinen Lieblingsplatz am Boden neben dem Kaffeetisch ein. Die Schale
mit Chili (Hank hatte wieder irgend etwas Schreckliches damit angestellt — zuviel
Tabasco, nahm ich an) und mein Weinglas stellte ich vor mich hin. Ich bemerkte
eine leere Espressotasse, und mir fiel ein, daß Jack Stuart, unser Fachmann für
Strafrecht, dieses widerwärtige Gebräu liebt. »Warum ist Jack schon so früh
gegangen?«
    »Er mußte zum Justizpalast«, sagte
Hank. »Sein iranischer Mandant hat auf einen Jugendlichen geschossen; er
behauptet, er wollte in seinem Laden Bier stehlen. Zum Glück hat er nicht
getroffen.«
    »Der arme Jack. Und was ist mit Ted?
Sagtest du nicht, daß er auch käme?«
    Alle vier Gesichter überschatteten
sich. »Ted hat es nicht geschafft. Sein Freund Harry ist gestorben«, sagte
Anne-Marie.
    »Oh, nein!« Ich legte meinen Löffel ab.
Das bißchen Appetit, das ich gehabt hatte, war mir vergangen. Harry war ein
Jugendfreund unseres Sekretärs gewesen; er war schwul wie Ted. Er ist an Aids
gestorben. Jedesmal, wenn ich mit dieser schrecklichen Krankheit konfrontiert
werde, überwältigen mich Ohnmacht und Zorn. »Wie wird Ted damit fertig?«
    »Er hat es heute nachmittag erfahren.
Ich habe mich dann zu ihm gesetzt und etwas mit ihm getrunken«, sagte Rae. »Er
ist tapfer; es kam ja nicht unerwartet. Aber dennoch... Weißt du, was er gesagt
hat? Er hat gesagt, er fühle sich irgendwie abgeschnitten; Harrys Tod sei der
erste große Bruch mit seiner Jugend. Er sagte, er habe das Gefühl, als müsse er
die Kluft zwischen Anfang und Ende seines Lebens überwinden.«
    »Ich weiß, was er meint«, sagte Hank.
»Der Tod dieses Mandanten, dessen Erben Shar ausfindig zu machen versucht, hat
bei mir das gleiche Gefühl ausgelöst. Dabei war Perry kein so enger Freund,
aber für mich war er das Symbol einer Ära.«
    »Wie Abbie Hoffmann«, warf Anne-Marie
ein. »Ich konnte es nicht fassen, als er sich umbrachte. Der Politclown der
Studentenrevolution stirbt im mittleren Alter durch Alkohol und eine Überdosis
Antidepressiva. Als ich von Abbies Tod erfuhr, habe ich begriffen, daß die
sechziger Jahre endgültig vorbei waren.«
    Wehmütig murmelte Willie: »Ich hab’ die
sechziger Jahre verpaßt. Da war ich in Vietnam und hab’ ums Überleben gekämpft.
Die siebziger Jahre hab’ ich auch verpaßt. Da war ich vollauf beschäftigt,
nicht im Knast zu landen. Und wenn ich’s recht bedenke, hab’ ich wohl auch die
achtziger Jahre verpaßt.«
    »Ich auch — ich meine die sechziger«,
sagte Rae. »Es sei denn, es zählt, damals geboren worden zu sein. Das muß ‘ne
tolle Zeit gewesen sein, hm?«
    Hank zuckte die Achseln. »Wenn man nach
den nostalgischen Gefühlen urteilt, in denen man in letzter Zeit so schwelgt.
Letzten Mai haben sich in Stanford alternde Militante getroffen. Die Leute, die
1969 im Seminar für angewandte Elektronik saßen, haben sich mit den radikalen
Studenten von heute zusammengesetzt, um über die alten Zeiten zu reden.«
    »Um Himmels willen!« entfuhr es mir.
»Warst du auch da?«
    »Quatsch. Ich saß 1969 mit Willie in
einem Armeeversorgungslager in Cam Ranh Bay, nachdem ich idiotischerweise in
ein Ausbildungskorps für Reserveoffiziere eingetreten war — in der Annahme, daß
der Krieg bis zu meinem Studienabschluß zu Ende wäre. Aber selbst wenn ich
damals an den Protestaktionen teilgenommen hätte, fände ich die Vorstellung,
mit wohlsituierten Bürgern, die sich um ihre Falten und ihren Haarausfall
sorgen, Weißwein zu trinken und Rohkost zu knabbern, zum Kotzen.«
    »Wo sind deine Ideale geblieben?«
    »Oh, die gibt’s immer noch irgendwo.
Das Problem ist, daß ich heute oft gar nicht mehr mitkriege, welche Ideale gerade gefragt

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