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Tote Pracht

Tote Pracht

Titel: Tote Pracht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Gebäude entlang der Hauptstraße stammen aus der Zeit der
Jahrhundertwende, und die Stadt vermittelt einen bäuerlichen Eindruck, den
allerdings die hier ansässige Zeitung, The Point Reyes Light, Lügen
straft. Beim Durchfahren stellte ich fest, daß seit meinem letzten Besuch auch
hier Zeichen eines gewissen Fortschritts zu sehen waren — herausgeputzte ältere
Häuser und ein paar neue sowie ein kleines Einkaufszentrum, wo die Light ihr Büro hinverlegt hatte. Es drängte sich mir die Frage auf, wie lange es noch
dauern würde, bis auch hier die Hügel mit Straßen bepflastert werden. Die
Milchbauern, an deren Höfen ich auf der anderen Seite vorbeigefahren war,
schienen jedoch gute Erträge zu erwirtschaften; vielleicht würde die Nachfrage
nach ihren Produkten sogar über die Gier der Immobilienmakler siegen und den
Zustrom der Großstadtflüchtlinge stoppen.
    Die kurvige Straße führte mich ins
Landesinnere, dann zurück an die Bucht, in die schlammige Ebene.
Austernzuchtanlagen waren zu sehen — geometrisch angeordnete Stangen, die aus
dem Wasser ragten. Hier wurden die Saatmollusken gefüttert und wuchsen, vor
Feinden geschützt, heran. Die Austernzucht, so wußte ich, war neben der
Milchwirtschaft die einzige wirkliche Industrie in der Gegend von Tómales Bay,
und alle Zeichen deuteten darauf hin, daß sie nicht gerade florierte. Ich fuhr
an einer Austernfarm vorbei, die zum Verkauf stand; eine mittelgroße Bootswerft
mit Fischerkähnen im Trockendock machte einen seltsam verlassenen Eindruck. In
dem kleinen Dörfchen Marshall war das Austernrestaurant geschlossen, seine
zerbrochenen Fensterscheiben waren mit Brettern vernagelt. Auf einem schmalen
Streifen Land zwischen der Straße und dem Abhang zur Bucht standen Hütten — die
meisten mit Schindeln verkleidet und einige komisch verwinkelte Bauten mit
Fenstern an eigenartigen Stellen, wie man sie oft am Meer findet. Hinter Nick’s
Cove, meinem Lieblingsrestaurant für gebratene Austern, begann die Straße,
flankiert von windgepeitschten Zypressen, aufzusteigen. Ich warf einen Blick
auf meinen Tacho.
    Nach weniger als drei Kilometern
erschien ein verblaßtes Schild auf zwei hohen Masten: ›Taylor’s Austern.‹ Eine
Einfahrt aus Muschelbruch zweigte von der Straße ab, führte einen Abhang
hinunter und endete auf einem Parkplatz. Ich holperte über Furchen und
Schlaglöcher.
    Der Parkplatz ähnelte einer
Alteisenhandlung: kaputte Autos verrotteten auf einem Feld mit wild wucherndem
Aniskraut neben einem Berg von Austernschalen, die sich wie Erzabfälle aus
einer verlassenen Mine über den Hang ergossen. Zwischen ein paar rostige
Anhänger hatte man Wäscheleinen gespannt. Alte Maschinen lagen herum,
Lkw-Achsen, ein verrosteter Automotor und zwei verfaulte Ruderboote. Dazwischen
lagen drei der räudigsten Köter, die mir je unter die Augen gekommen waren.
Direkt vor mir am Ufer lag das Restaurant.
    Ich parkte vor dem schiefen grau-weißen
Holzgebäude zwischen einem alten, roten Kleinlaster, der aussah wie ein Gefährt
aus Früchte des Zorns, und einem recht neuen Camper mit einem
Nummernschild aus Oregon. Die Fenster des Restaurants waren von einem solchen
Dreckfilm überzogen, daß die Leuchtreklamen für Coors und Oly matt wirkten. Ich
stieg aus und schaute mich um und mußte gegen die heftige Meeresbrise
ankämpfen.
    Links vom Restaurant führte ein Weg zu
einer Reihe winziger Häuschen — möglicherweise ehemalige Ferienhütten. Ihre
Dächer sackten durch, die Metallkamine waren verbogen, und viele Fenster waren
mit Sperrholz vernagelt oder mit Pappe und Klebestreifen geflickt. Auf dem Weg
lungerten Hunde herum, deren verfilztes Fell von Windböen zerzaust wurde. Ein
kleiner Junge und ein noch kleineres Mädchen spielten am Fuß eines
Muschelberges; der Wind trug den Klang ihrer Stimmen zu mir herüber — fröhliche
Laute in der trostlosen Umgebung.
    Ich ging zu den Kindern hin und bückte
mich lächelnd zu ihnen hinunter. Sie schauten mich ehrfürchtig an. Beide hatten
schwarzes Haar und dunkle Knopfaugen; ihre Kleidung war alt und geflickt, aber
sauber. Sie waren höchstens fünf oder sechs Jahre alt. Ich sagte: »Hallo, wie
heißt ihr denn?«
    Das Mädchen steckte den Finger in den
Mund und starrte mich nur an. Der Junge — der ältere von beiden — sagte
schließlich: »Das ist Mia. Ich bin Davey.«
    D. A. Taylors Kinder. Leute, die ihre
Kinder nach sich selbst nennen, geben mir immer Rätsel auf. Zu viel Ego oder zu
wenig? In Taylors

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