Toten-Welt (German Edition)
voraus. Die Spitze bildeten die fünf Träger mit ihrer geheimnisvollen Last, danach folgte ein Gänsemarsch an Leichen.
Als sie das Rathaus verließen, den Weg zum Unteren Tor einschlugen und so immer mehr Platz hinter sich schufen, riss die Prozession zwischen Spitze und sich formierender Nachhut im Kerker nicht ab. Stattdessen wurde sie länger und länger, da sich mehr und mehr herumirrende Tote anschlossen und einreihten.
Aus der Luft betrachtet, wirkte der Leichenzug wie ein Gummiband, das am Rathaus hing und sich dehnte und dehnte und dehnte, während die Spitze den Städtischen Friedhof passierte, die Stadtgrenze und schließlich die Einmündung in die Bundesstraße.
Etwas schrie nach Vereinigung. Etwas, das es selbst noch nicht wusste. Etwas Großes würde daraus hervorgehen. Niemand wusste, was, aber je mehr sich einklinkten und mitzogen, desto sicherer wurde sich jeder Einzelne, auf dem richtigen Weg zu sein, auch wenn er den Weg gar nicht kannte, sondern vom Kollektiv gesteuert wurde. So schön fühlte sich das an, dass man sich vorkam wie wieder im Leben und auf direktem Weg ins Paradies.
Als Polizeihauptkommissar Werner Mertel und sein Begleiter fast auf Höhe des Führungsfahrzeugs waren, setzte sich der Konvoi in Bewegung. Mit einem Spurt erreichte der Begleitsoldat den Fünftonner, klopfte im Rennen an die Scheibe und brachte den Zug durch Handzeichen wieder zum Stehen.
Der Oberst kurbelte die Scheibe herunter und fragte ungehalten:
„Was soll das? Warum sind Sie nicht auf Ihrem Posten?“
„Wegen mir.“
Mertel hatte aufgeholt und präsentierte seine Marke. Im Gegensatz zu dem jungen, durchtrainierten Soldaten war er ins Schnaufen gekommen.
„Dienstausweis bitte“, verlangte der Oberst, und noch ehe Mertel reagieren konnte, fügte er hinzu: „Und Personalausweis oder Pass.“
„Wussten Sie schon, dass die Welt untergegangen ist?“, fragte Mertel, aber reichte folgsam die geforderten Dokumente in das Fahrzeug.
„Um so mehr Grund zur Vorsicht“, versetzte der Oberst mechanisch, prüfte die Ausweise und reichte sie zurück. „Was können wir für Sie tun, Herr Polizeihauptkommissar?“
„Zunächst mal könnten Sie Ihren Trupp von hinten sichern. Ihre Leute glotzen stur nach vorn. Wäre ich einer von diesen Zombies...“
„Sind Sie aber offenbar nicht. Zur Sache bitte!“
„Ich ermittle in einem Mordfall, der in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser allgemeinen Katastrophe steht. Diese Spur hier...“
Er zeigte auf das Laptop unter seinem Arm.
„...führt direkt zur Burg. Deshalb würde mich interessieren, warum Sie diese Richtung eingeschlagen haben.“
„Das ist eine militärische Geheimangelegenheit.“
„Sagt wer?“
„Sage ich als Oberkommandierender. Kurz vor dem Zusammenbruch von Infrastruktur und Fernkommunikation wurde in Berlin der Ausnahmezustand ausgerufen. Das heißt, auch Sie unterstehen jetzt meinem Kommando. Wenn Sie Beweise haben...“
„Ich unterstehe niemandem. Außerdem...“
„...dann haben Sie diese Beweise unverzüglich bei mir abzuliefern und weitere Befehle von mir abzuwarten“, redete der Oberst gegen ihn an und gab seinem Soldaten einen Wink. „Wenn Sie sich weigern, kann ich Sie unter Arrest stellen lassen.“
Der Soldat griff nach dem Laptop. Bevor er es Mertel unter dem Arm wegziehen konnte, hatte der es selbst geschnappt und warf es ihm entgegen.
„Viel Spaß damit.“
Mit dem Zerrbild eines oberkorrekt ausgeführten militärischen Grußes wendete er sich zum Gehen.
„Moment mal, was soll das heißen?“
„Der Akku ist fast leer. Strom gibt es nicht mehr. Und Sie haben keine Ahnung, wonach Sie suchen müssen.“
„Festhalten!“
Sofort war der Soldat zur Stelle, wollte zupacken, aber Mertel tauchte unter seinem Griff weg und zeigte ihm die Mündung seiner Dienstpistole.
Der Oberst stieß die Tür auf und sprang aus dem Laster.
„Waffe runter!“
„Ich habe mich friedlich, freundlich und in besten Absichten an Sie gewandt“, sagte Mertel ruhig und richtete die Waffe nun auf den Oberst. „Ich wollte mit Ihnen zusammenarbeiten. Zum Dank führen Sie sich auf wie ein Arschloch.“
Während Mertel sprach, hatte der Soldat sein Gewehr in Anschlag gebracht und auf Mertel gerichtet.
„Wenn Sie auf mich schießen, sind Sie tot“, erwiderte der Oberst ruhig und streckte die Hand nach Mertels Pistole aus.
„Sie aber auch.“
„Wirklich?“
Der Oberst kam langsam, Schritt für Schritt, auf Mertel zu und sagte
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