Toten-Welt (German Edition)
gerade so laut, dass nur er es verstehen konnte:
„Schauen Sie mir lieber mal in die Augen, bevor Sie schießen. Denn sonst sterben Sie ganz umsonst.“
Mertel fiel sofort der Unterschied in Farbe und Helligkeit der Pupillen auf. Den selben Effekt hatte er bei Bruno beobachtet. Er wusste nicht genau, was das bedeutete, aber rief aufs Geratewohl:
„Der gehört zu denen. Wissen Sie das, Soldat?“
Der Oberst winkte seinen Untergebenen näher heran. Der folgte, ohne das Gewehr dabei zu senken oder Mertel aus dem Visier zu lassen. Trotz der verkrampften Gesichtshaltung hinter Kimme und Korn sah Mertel den Unterschied der Augen.
„Verfluchte Scheiße.“
Widerwillig drehte er die Pistole um und übergab sie dem Oberst am Lauf.
„Keine Angst“, sagte der freundlich, „wir sind keine Menschenfresser. Wir gehören zu den Guten.“
„Na klar.“
„Umdrehen bitte.“
Mertel sah die Handschellen und bot, nach kurzem Zögern, seine auf den Rücken gedrehten Hände zur Fesselung dar.
„Eine reine Vorsichtsmaßnahme. Steigen Sie auf die Ladefläche. Ich helfe Ihnen.“
Er dirigierte Mertel zur Rückseite des Fünftonners, schob ihn eine metallene Stiege nach oben und sagte, bevor Mertel hinter der Plane verschwand:
„Sie können natürlich während der Fahrt abspringen. Das kann zu schweren Verletzungen führen. Und dass Sie in einer solchen Welt mit nach hinten gefesselten Händen...“
„Schon klar.“
Mertel stieg auf die Ladefläche und verschwand aus dem Sichtfeld.
„Stellen Sie vorsichtshalber jemanden zur Bewachung ab. Und sichern Sie ab jetzt auch nach hinten.“
Der Soldat schulterte das Gewehr, salutierte und beeilte sich, das Ende des Konvois zu erreichen.
Amelie schaffte es, ihre Höhenangst hinunter zu schlucken wie eine dicke, bittere Pille und in einem kühnen Klettersatz die letzten Leitersprossen zu nehmen. Kaum stand sie im Durchschlupf in den Bergfried, bereute sie ihre Kühnheit. Denn jetzt von der Kante zurück auf die Leiter zu gelangen, ging wohl über ihren Mut.
Sie zwang sich, diesen übernächsten Schritt zu vergessen und konzentrierte sich auf den nächsten. Jetzt war sie schon mal oben, also war es nur folgerichtig, den Turm zu durchsuchen.
Aber sie war in einer Sackgasse gelandet. Kaum hatte sie sich nach innen gewandt, erkannte sie das Verhängnis. Es ging weder nach oben noch nach unten. Denn der Turm war im Innern eine nackte Röhre ohne Stiegen. Nach oben sah sie das Spitzdach von innen, also blanke Dachziegel über einer ziemlich marode wirkenden Holzkonstruktion – und nach unten in das schwarze Angstloch des ehemaligen Kerkers.
Sie traute sich an den Rand, zog die kleine Lampe aus der Tasche, mit der sie sich im Geräteschuppen bewaffnet hatte, und leuchtete in die Tiefe. Sie sah alles und fand nichts. Kahle Mauern bis unten. Ein halber Meter Wasser stand im Kerker, was wohl am sanierungsbedürftigen Dach liegen mochte. Es gab hier kein Versteck.
Ausgerechnet jetzt, da sie diesen nutzlosen, gefährlichen Umweg bereits gemacht hatte, fiel ihr etwas ein, das Wicca ganz am Anfang zu ihr gesagt hatte, eine ihrer nervig-überauftrumpfenden Drohungen. Sie hatte sie mit einem Insekt verglichen und gewarnt:
„Wenn Sie meine Praxis betreten, hole ich die Fliegenklatsche. Und im Keller lagert, sinnbildlich gesprochen, mein Essen. Sollte ich Sie irgendwo unterhalb der Grasnabe erwischen, sei es innerhalb oder außerhalb dieser Mauern...“
Das Problem war bloß: Sie hatte die Drohung ja längst ignoriert und, nachdem Wicca sie von der Erzfeindin zur Busenfreundin gemacht hatte, jeden verdammten Raum und Gang dieser Burg durchstreift. Sie kannte jede Tür und jedes Tor, jede Treppe und jeden Winkel. Außer kistenweise Vorräte an Wiccas Ampullen mit dem Mittel hatte sie nichts gefunden.
Was sie nur oberflächlich kannte, war Bergenstrohs Privatbereich. Dort hatte es gebrannt, bevor Amelie ihre Durchsuchung gestartet hatte. Und nach dem Brand hatte sie die Räume nicht mehr betreten. Wozu auch, es war alles verkohlt.
Sie machte kehrt, schaute nach außen und übersah von hier oben den gesamten Weg von der Alten Wüstung zur Burg. Der Militär-Konvoi war auf halbem Weg und setzte sich gerade wieder in Bewegung. Auch wenn das Menschen waren, Helfer und Retter – mit ihrer Bewegungsfreiheit hier oben wäre es vorbei, wenn die erst mal einmarschiert waren.
Amelie drehte sich um, ging auf die Knie, rutschte rückwärts an die Kante und fingerte mit einem Bein nach der
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