Toten-Welt (German Edition)
regeln. Ich wende mich an einen Vorgesetzten, im Vertrauen. Aber am besten erst, wenn die Einquartierung hier abgeschlossen ist und eine Art Routine abläuft. Übergangsphasen, so wie jetzt gerade, sind immer am gefährlichsten, denke ich.“
„Klingt vernünftig. Wie heißt Ihr Vorgesetzter?“
„Unteroffizier Leistner.“
„Ein Unteroffizier kommandiert diese Truppe?“
„Nein, natürlich nicht. Das Kommando hat der Oberst.“
„Ein Oberst?!“
„Ja, ich weiß, das erscheint dann wiederum fünf Nummern zu groß für unseren Trupp, aber der gehörte auch nicht ursprünglich zu unserer Kaserne.“
„Ach nein? Woher kommt er denn?“
„Keine Ahnung. Wurde wohl angesichts der Lage mit einem Auftrag entsandt und strandete bei uns.“
„Woher?“
„Weiß nicht. Vielleicht Berlin. Er hat auch kein Namensschild.“
„Soll das heißen, Sie wissen gar nicht, wie sein Name ist?“
„Doch, das natürlich schon. Zumindest am Anfang fiel da mal ein Name. Inzwischen wird er nur noch der Oberst genannt.“
Amelies Armhärchen stellte sich auf. Sie wusste nicht, woher der Schauder kam, der sie plötzlich erfüllte, aber diese Geschichte klang ziemlich schräg. Es war das Gefühl einer Vorahnung, das eingelöst und aufgelöst wurde, noch bevor sie es richtig begriff.
„Klangfärber. Sagt Ihnen das was? Ich glaube Hermann.“
Amelie schüttelte mechanisch den Kopf und wunderte sich, wie ruhig sie blieb. Das war einer jener seltenen Momente, in denen man tausend Gedanken zugleich denken konnte und weit über den eigenen Tellerrand hinaus sah, wohl wissend, in der nächsten Sekunde wieder so dumm zu sein wie zuvor. Der beherrschende dieser flüchtigen tausend Gedanken war:
Deshalb ist sie also verschwunden!
Und dann von 999 abwärts:
Aber nein, sie wollte ihn doch finden.
Vielleicht ist sie also noch da, versteckt sich und lauert auf ihn. Baut ihm eine Falle.
Aber welche Rolle habe ich in diesem Spiel?
Zieht sich hier nun alles zusammen, an diesem Ort, der schon mal Hauptschauplatz eines Untergangs war?
Vor allem aber: Will ich dabei sein, wenn es passiert?
HABE ICH DENN EINE WAHL???
„Lagebesprechung, Männer!“
Der Oberst winkte die drei Soldaten, die an der Tür zum Rittersaal auf Stühlen saßen und tuschelten, zu sich herein. Es war ganz früher Morgen. Noch vor dem Wecken. Eigentlich noch Nacht, aber ein erster Schimmer am Horizont machte es möglich, auf Kerzen zu verzichten.
„Darf ich vorstellen: Polizeihauptkommissar Werner Mertel – Leutnant Kuckel, Stabsfeldwebel Wachsenberg und Unteroffizier Leistner. Meine höchsten Dienstgrade. Alle anderen Soldaten sind Gefreite.“
Mertel war aufgestanden und hatte dem Leutnant die Hand entgegengestreckt. Der warf nur einen Blick darauf und wandte sich dann dem Oberst zu. Von der Seite sah er genauso aus wie von vorn: aufgepumpter Oberkörper und dünne Beinchen. Offenbar war Bankdrücken seine Lieblingsübung gewesen.
„Dieser Mann war bis vor einer Stunde unser Gefangener.“
„Zu unrecht.“
„Er ist ein Zivilist.“
„Er ist Polizist. Ein Ordnungshüter und Staatsbürger in Uniform. Genau wie wir.“
„Die Uniform hing bei mir nur im Spind“, sagte Mertel freundlich und zog seine Hand zurück. „Ich war Zivilfahnder. Aber mir sind Rangdünkel aller Art vertraut. Als Hauptkommissar entspreche ich ungefähr einem...“
„Das spielt doch überhaupt keine Rolle!“, unterbrach der Leutnant ihn barsch und ohne ihn anzuschauen. „Unsere Operation unterliegt höchster Geheimhaltungsstufe.“
„Gegenüber wem denn noch?“, fragte der Oberst und lächelte. „Unser aller Überleben steht jetzt im Mittelpunkt. Und das geht uns auch alle an. Ob eine Operation welcher Art auch immer überhaupt noch machbar ist, das entscheiden wir, wenn wir die Lage analysiert und die Grundversorgung gewährleistet haben.“
Leutnant Kuckel holte Luft und verstummte sofort nach einem lauten „Aber“, als der Oberst einen Schritt auf ihn zu machte und Haltung annahm.
„Das ist ein Befehl. Setzen Sie sich, meine Herren.“
Widerwillig nahmen die drei Soldaten Mertel gegenüber Platz, während der Oberst sich an die fenstergewandte Rundspitze des ovalen Tisches setzte und damit rechts seine Männer, links Mertel zur Seite hatte.
„Punkt A: Ernährungslage. Unteroffizier?“
„Wir haben noch knapp 300 Einmannpackungen...“
„Bei welcher Mannschaftsstärke?“, unterbrach ihn Mertel.
Der Unteroffizier, ein Schnurrbartträger mit
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