Toten-Welt (German Edition)
zu richten. Als der Schmerz sie zwang, aufzuhören, hatte sie keine Ahnung, ob es geklappt hatte. Es zu ertasten, brachte sie nicht über sich.
Sie war regelrecht durchgedreht, deshalb saß sie hier. Und der Grund für ihren Tobsuchtsanfall war: Die hatten ihr angekündigt, sie zu IHM zu bringen. Was sie aber über IHN gelesen hatte in Bergenstrohs Aufzeichnungen, das ging noch immer über ihren Verstand. Über IHN und SIE wusste sie nun alles. Und über sich selbst. Wenn es stimmte, was Bergenstroh da herausgefunden hatte, dann war sie hier unten am besten aufgehoben. Dann war es das Beste, sie würde das Sonnenlicht nie wieder sehen.
Der Hase rechnete damit, ihm werde der Kopf abgebissen und die Schultern gleich mit. Die Schnauze des weißhaarigen Überwesens war bis zum Anschlag aufgerissen und senkte sich aus drei Metern Höhe wie ein riesenhaftes Haifischmaul zu seinem Kopf.
Aber der Angriff kam von unten. Etwas bohrte sich in seinen Bauch, und es fühlte sich an wie erdolcht und zugleich begattet zu werden. Etwas wurde ihm eingepflanzt. Die Schmerzen, von denen er wusste, dass sein Körper sie fühlte, waren seinem Verstand entzogen. Sein hypnoseartiger Zustand der Glückseligkeit intensivierte sich noch, derweil sich sein Bauch mit etwas füllte, das sofort in ihm zu leben begann.
Als es ganz in ihm drin war, zog sich der Stachel zurück und schlüpfte aus seinem Körper mit einem schlürfenden Geräusch. Das Maul schloss sich, ohne zugebissen zu haben.
Der Hase sank zur Seite, zog seine Beine an und krümmte sich in eine Embryohaltung. Das Gefühl der Glückseligkeit schwand, und zugleich näherten sich die Schmerzen. Sein Stoffwechsel veränderte sich rapide. Er begann, auf dem Steinboden in Wiccas Ravelin liegend, blutigen Schleim zu schwitzen und darin zu schwimmen wie ein Eidotter im Eiweiß. Das Ding in ihm hatte längst angefangen zu wachsen und seine eigene Körpersubtanz zu verdrängen.
Es wurde schlimmer, mit jeder Sekunde größer in ihm und damit schlimmer für ihn. Ganz schlimm. Er ahnte schon, was es sein würde, wenn der Endzustand seiner Verwandlung einträte. Aber es war zu spät. Er war verführt und betrogen worden.
Er würde tot sein und doch weiter leben, aber auf eine Art, die er sich nie gewünscht hätte, wäre er bei klarem Verstand gewesen. Dann lieber als seine eigene Leiche herumgehen. Das hatte er vermeiden können. Aber zu welchem Preis.
Er begann sich zu wünschen, er hätte sich von seinem Bruder beißen lassen. Damals, in Bomhans Küche. Hätte er nur. Wäre er nur...
„Wir sollten nicht noch länger warten.“
Werner Mertel hatte in die Runde gesprochen ohne Klangfärber anzusehen, aber ihn gemeint. Sie standen mit Leistner und Niedermüller im und um den Türstock des Rittersaals und belauerten den Gang nach beiden Seiten. Aus beiden Richtungen drangen Schreie und Kampflärm heran.
Stoltes letzter Meldung zufolge, war die Vorburg kurz davor zu fallen. Mit dem Sonnenaufgang hatte das Gewimmel wieder eingesetzt. Sie drückten und rannten gegen die Mauern, vor allem gegen das Vorburgtor, und bildeten erste neue Rampen. Und in der Burg waren bereits wer weiß wie viele von ihnen unterwegs.
Stolte hatten einen erledigt auf dem Weg von seinem Posten zum Kommandostand. Er hatte versprochen, einen Trupp in den Kerkertrakt zu entsenden, um nach Kellermeister zu suchen, der Amelie befreien sollte. Weder Kellermeister noch der Suchtrupp waren wieder aufgetaucht. Sie waren überfällig. Und Amelies Schicksal blieb ungeklärt.
„Verdammt, die wissen doch außerdem, wo wir sind! Der Bergfried ist ja wohl nicht schwer zu finden.“
Auch Niedermüller sprach ins Leere, aber auch bei ihm war klar, dass er Klangfärber meinte. Die Tatsache, dass der kleine Hauptgefreite den großen Oberst und BMF indirekt derart anschnauzte und der es sich gefallen ließ, sprach Bände.
Götterdämmerung.
„Gut. Sie drei übernehmen das. Ich suche die anderen.“
„Das ist doch Wahnsinn!“, schimpfte Leistner. Er ging seinen Vorgesetzten sehr wohl direkt an und war kurz davor, ihn zu packen und mit sich zu ziehen. „Die Burg geht unter. Wir haben diese kleine Chance...“
„Mir passiert schon nichts. Wir brauchen doch Taschenlampen. Und so viel Verstärkung wie möglich. Besser ich gehe als jemand von Ihnen.“
Mertel gab Niedermüller einen Klaps auf die Schulter und deutete mit dem Kinn in Richtung Bergfried.
„Also los!“
Leistner zögerte, betrachtete Klangfärber
Weitere Kostenlose Bücher