Totenacker
bleiben. Auch Kurt wollte bleiben, wir wollten die Heimat verteidigen. Unseren Müttern haben wir erzählt, wir hätten den Befehl dazu, und sie haben das geschluckt.
Erich lag mit Scharlach im Krankenhaus, alle hofften, dass man ihn rechtzeitig entlassen würde, damit er mitfahren konnte in die sichere Zone.
Am Tag vor der Abreise hieß es plötzlich, die Bahngleise wären kaputt gebombt, es würden überhaupt keine Züge von Kleve aus mehr fahren. Das musste ich natürlich kontrollieren.
Ich schnappte mir mein Fahrrad und radelte mitten hinein in den ersten großen Angriff auf die Stadt. Konnte den Bahnhof schon sehen, die Bomben, die ersten Einschläge. Drehte ab in die Kalkarer Straße, raus aus der Stadt! Bin gerast wie ein Irrer.
Schwerer Fehler, freies Feld rechts und links, die Straße wie ein Damm in der Mitte.
Als ich zurückschaute, drehten die Bomber ab, weite Kurve, dann direkt auf mich zu.
Bin abgesprungen, habe Fahrrad Fahrrad sein lassen, bin in den Straßengraben, platt auf den Bauch. Da waren Einschläge vor mir, keine hundert Meter entfernt, dann direkt hinter mir, höchstens zwanzig Meter. Irgendwie, irgendwohin bin ich vorwärtsgerobbt. Musste mich festkrallen in der Erde, um nicht von den Detonationen hochgerissen zu werden.
Plötzlich war Stille. Ich habe aufgeschaut: überall Qualm, geborstene Bäume. Mein Fahrrad war unter Astwerk begraben. Ich habe es rausgezerrt, bin losgefahren Richtung Unterstadt. Überall Soldaten, Zivilisten auf den Straßen, Gesichter, Rufe. ‹Das Krankenhaus ist getroffen!›
Es war kein Durchkommen. Ich habe das Rad fallen lassen und bin gerannt. Dann stand ich vorm Hospital. Erichs Zimmer, die ganze Isolierstation war weg, ein qualmender Berg aus Steinen, Mörtel, Gestänge. Auf der Wiese lagen Kranke, die Nonnen liefen mit Decken und Kissen herum. Eine fasste mich an der Schulter. ‹Ich habe deinen Bruder gerade noch gesehen.›
Ich weiß nicht, wo ich mein Fahrrad gelassen hatte, also bin ich weitergerannt, die ganze Stadt hoch zum Mittelweg. Und da saß Erich, bleich und zitternd, sprach nicht, lange nicht. War einfach nach Hause gelaufen.
Evakuiert worden sind sie dann am nächsten Tag doch noch. Irgendwer hatte einen Lastwagen organisiert, der sie ins Ruhrgebiet brachte, von wo aus noch Züge verkehrten.
Kurt und ich blieben in unserer Wohnung, notdienstverpflichtet, zuständig für die Zwangsevakuierung.
Auf Kurts Moped fuhren wir zu unseren Einsätzen.
Ständig waren jetzt Flugzeuge über der Stadt. Bald konnten wir sie am bloßen Geräusch auseinanderhalten, die leichten Jabos, die großen viermotorigen Fernbomber. Einen kühlen Kopf bewahren, war das Wichtigste. Ahnen, aus welcher Richtung sie kommen, immer eine mögliche Deckung im Auge haben. Schutz suchen, notfalls unter einer Regenrinne, wenn sirrend die Schrapnellsplitter der Flak herabregneten.
Wir schmierten Butterbrote für die Leute, die auf ihre Evakuierung warteten, fraßen uns selbst dick und rund daran und am Eingemachten, das in unserem Keller stand und nebenan in Kurts Elternhaus. Sturmfreie Bude, herrlich! Ob wir Angst hatten? Nachts manchmal ein leises Gruseln, das schon.
Der 7. Oktober lief ab wie jeder andere Tag in diesen zwei Wochen.
Nach einem opulenten Mittagessen auf dem Mittelweg schwangen wir uns auf Kurts rotes Moped und knatterten los zu unserem Einsatz in der Adolf-Hitler-Straße. Die Sonne schien, der Himmel war wolkenlos.
Aber dann an der Linde sah ich im Westen die ersten Feindflugzeuge, es wurden mehr und mehr, und sie begannen zu kreisen. Ich habe nichts gesagt, Kurt hat nichts gesagt – wir wussten beide, was das bedeutete: Großangriff.
Dann saßen wir erstarrt auf dem Moped und sahen, wie die Bomben aus den Fliegern herausfielen.
‹Dreh um, Kurt, dreh um! Lass uns abhauen!›, schrie ich. Aber es war zu spät, viel zu spät.»
Fricka brach unvermittelt ab.
«Aber ihr habt euch in einen Bunker retten können, nicht wahr? Und nachher habt ihr Menschen aus den Trümmern geborgen», erinnerte sich van Appeldorn.
Der Onkel griff wieder nach seiner Bierflasche, seine Hände zitterten so stark, dass er sie kaum zum Mund führen konnte.
«Wieso habe ich einem kleinen Jungen davon erzählt? Ich war wohl immer noch nicht wieder bei Sinnen.»
Seine Augen waren trüb, als er Norberts Blick suchte.
Van Appeldorn stand auf, hockte sich neben den Sessel und nahm Frickas Hand. «Du bist müde. Es tut mir leid, dass ich dich so aufgeregt habe.»
«Ich bin
Weitere Kostenlose Bücher