Totenbeschwörung
Ohr, wenngleich dies wenig zu sagen hatte, denn auch in dieser Welt waren Ohrringe bei Männern wieder in Mode.
Sie trug eine grasgrüne Bluse, die von einem Jade-Clip zusammengehalten wurde, und einen weiten, herbstlich gemusterten Baumwollrock, dazu eine hellbraune, fransenbesetzte Wildlederjacke. Wäre sie ein bisschen kleiner gewesen und etwas dunkler, ihr Haar schwarz, die Augen ebenfalls ... vielleicht hatten so die Frauen ausgesehen, die er kannte. Siggi fragte sich, wie viele es wohl gewesen sein mochten, und wie gut er sie gekannt hatte. Doch was sollte das? Er war fast noch ein Kind, und sie musste sich ihm gegenüber wie eine Schwester geben, eine Frau, die Verständnis für ihn zeigte und mit ihm fühlte in dieser fremden, neuen Welt.
Als sie auf den Flur trat, wartete die Wache bereits auf sie, ein junger, müde aussehender Soldat. Sobald er sie sah, nahm er Haltung an, salutierte und schulterte sein Gewehr. Mitternacht war längst vorüber, und sie konnte nachvollziehen, dass er todmüde war. Nur die notwendigsten Aufgaben wurden jetzt noch erfüllt. Ansonsten war es in der gesamten Anlage ebenso still wie in einem Grab. Und die Atmosphäre war nicht minder bedrückend. Wie in einem riesigen Mausoleum. Einen Augenblick lang glaubte Siggi, keine Luft zu bekommen. Sie konnte das Gewicht des Berges, das über ihr lastete, beinahe spüren.
Auf dem Weg zu Nathans Zelle fragte sie ihren Begleiter: »Wie lauten Ihre Befehle?«
»Nur, Sie zu begleiten und Sie ins Zimmer des Gefangenen zu lassen. Dann soll ich draußen warten, bis Sie fertig sind und nach mir rufen.«
»Es könnte fast die ganze Nacht dauern.«
Er zuckte die Achseln und erwiderte nichts.
Sie dachte an Nathan. Sie war dabei gewesen, als sie ihm etwas unters Essen gemischt und ihn durch das Tor geholt hatten. Den Sohn – einen Sohn – des Mannes, den sie als Necroscope gekannt hatten. Siggi hatte die Akte Keogh gelesen, und was darin stand, war einfach ... absurd? Nein, das traf es nicht ganz! Es war die Geschichte eines Mannes, der sich innerhalb eines einzigen Augenblicks an jeden beliebigen Ort der Erde zu begeben vermochte. Er konnte sich teleportieren, so etwas hatte sie noch nie gehört. Außerdem konnte er mit den Toten reden und hatte die Gabe, sie aus ihren Gräbern auferstehen zu lassen! Zuletzt war er auch noch ein Vampir geworden, ein Wamphyri, um genau zu sein! Er war auf einem amerikanischen Motorrad direkt in das Tor gerast und verschwunden. Seitdem hatte niemand mehr etwas von ihm gehört.
Es war allerdings nicht das erste Mal, dass Keogh sich auf Starside aufhielt. Vier Jahre zuvor hatte das britische E-Dezernat ihn mit einer Mission dorthin betraut. Er sollte einen Agenten ausfindig machen, den sie bei dem Versuch, die Anlage von Perchorsk auszukundschaften, verloren hatten. Das Ganze war nun ... hm, etwa zwanzig Jahre her. Und jetzt kam dieser Nathan durch das Tor und war etwa zwanzig Jahre alt. War Keogh sein Vater? Es schien das Nächstliegende. Aber es sah nicht danach aus, als habe er die Talente seines Vaters geerbt, denn in dem Fall hätten sie nicht die geringste Chance gehabt, ihn hier oder irgendwo sonst festzuhalten!
Turkur Tzonov hielt es für einen Zufall, dass Nathan ausgerechnet jetzt aufgetaucht war. Aber er musste auf Nummer sicher gehen. Siggis Auftrag bestand, kurz gesagt, darin, herauszufinden, was er hier wollte. War er von sich aus gekommen oder hatte ihn jemand geschickt? Falls Letzteres, dann wer? Um wen handelte es sich bei seinen Auftraggebern, wie viele waren es und wann würden sie ihm folgen? Sollten seine Antworten zufrieden stellend ausfallen, das heißt, bestand keine unmittelbare Gefahr und auch nicht die Notwendigkeit, zu außergewöhnlichen Maßnahmen zu greifen, würde Tzonov, quasi als Vorbereitung seiner Invasion, alles über Starside aus ihm herauspressen ...
Sie waren vor der Tür zu Nathans Zimmer – oder vielmehr seiner Zelle – angelangt. Früher waren alle Türen in Perchorsk mit einem Schließmechanismus ausgestattet gewesen. Doch nach einer Reihe katastrophaler Unglücksfälle, bei denen zu viele Menschen ums Leben kamen, weil die Türen sich nicht öffnen ließen, waren die meisten durch einfachere Vorrichtungen ersetzt worden. Nathans Zelle war einer der wenigen Räume, die man noch abschließen konnte. In der Tür befand sich eine kleine, von außen verriegelbare Luke.
Der Soldat hatte einen Schlüssel. Doch nachdem er ihn herausgeholt hatte, um Siggi einzulassen,
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