Totenbeschwörung
wurde schwer verletzt. Er starb an seiner Wunde. Aber meine Mutter ...
Zek spürte die Verwirrung, die sich in Nathan breit machte, und wie verletzt er auf einmal war. Er fühlte sich verraten und ausgenutzt. Blitzschnell lenkte Zek das Thema in eine andere Richtung. Nana Kiklu? Sie ist deine Mutter? Ist sie noch am Leben? Geht es ihr gut? Sie ist eine unglaublich tapfere Frau, Nathan! Oh ja, ich erinnere mich gut an Nana! Es war direkt nach der Schlacht. Sie war einsam und hatte ... vieles durchgemacht! Auch Harry hatte einiges hinter sich, und in gewisser Hinsicht hatte er mehr eingebüßt als jeder andere. Beiden war es ähnlich ergangen und das Schicksal hatte sie zusammengeführt. Nur ... glaube ich nicht, dass es irgendein blindes Schicksal war ... Zek versuchte, so verständnisvoll und zugleich auch ehrlich zu sein, wie die Umstände es gestatteten. Die beiden haben sich wohl ineinander verliebt.
Zek spürte, wie Trasks Griff um ihr Handgelenk fester wurde, und hörte, wie er ihr ins Ohr flüsterte: »Mach, dass du da rauskommst! Bringe ihn nicht in Gefahr!«
Erst legt ihr einen Köder für mich aus, und dann ... Mit einem Mal klang Nathan sehr leise, beinahe anklagend. Ich muss alles erfahren. Und du wusstest, dass ich ...
Nathan, erwiderte sie. Du kennst Trask. Seine Gedanken sind wie ein offenes Buch. Er erkennt, ob ein Mensch die Wahrheit sagt oder nicht. Du siehst doch, dass er es ehrlich meint, oder? Dir wird nichts geschehen, wenn du dich mit uns einlässt. Wir werden dich nicht benutzen. Und von jetzt an werde ich deine Gedanken auch nicht mehr stören ... Es sei denn, du wünschst es!
Es entstand eine lange Pause. Schließlich fragte Nathan: Was soll ich tun? Wohin soll ich mich wenden?
Zek seufzte erleichtert auf. Ich melde mich bald wieder bei dir. Halte dich bereit ...
In dieser Nacht schlugen die Zigeuner ihr Lager am Rand des gefrorenen Marschlandes dreißig Kilometer östlich von Kozvha auf. Nathan war der Ehrengast im Wagen ihres alten, von Wind und Wetter gegerbten Anführers.
Von dem Augenblick an, in dem er sie von seinem Versteck im Heck des Perchorsker Versorgungs-Lkws aus entdeckt und beim Sprung von der Ladefläche auf die verschneite Böschung seinen Hals riskiert hatte, war Nathan klar gewesen, dass es sich um seine Leute handelte. Sie unterschieden sich in so gut wie nichts von den Szgany der Sonnseite. Er war schlichtweg verblüfft, ausgerechnet hier auf Zigeuner zu treffen, und seine Verblüffung wuchs noch, als er sie sprechen hörte; denn ihre Sprache hatte mehr mit der Sprache der Sonnseite gemein als mit dem Russisch, das er sich in Perchorsk angeeignet hatte.
Das Sprachenlernen fiel Nathan nicht schwer. Das gesprochene Wort mit einer gedanklichen Vorstellung zu verbinden, war für ihn die leichteste Übung. Das hatte er in den Siedlungen der Thyre gelernt, die in der Wüste im Süden der Sonnseite lebten. Darum hatte er die Männer, die in den Wagen herumzogen, auf Anhieb verstanden und sie ihn ebenfalls, und er war freundlich aufgenommen worden.
Aber er ahnte, dass es weit mehr als nur Glück war, sie hier anzutreffen. Fast schien es, als sei es vorherbestimmt. Deshalb fragte er den betagten Stammesführer: »Woher hast du es gewusst?«
Dieser neigte den Kopf zur Seite und zwinkerte ihm zu. Sein Gesicht sah aus wie dunkel gegerbtes Leder, in seinem Mund blitzte ein Goldzahn, im rechten Ohr trug er einen schlichten goldenen Ring und weiteres Gold an den Fingern. Aber kein Silber! »Du hast es also gespürt, nicht wahr?«, kicherte der alte Mann. »Dass wir auf dich gewartet haben! Warum? Nun, das bleibt mein Geheimnis. Deshalb bin ich ja der Stammesführer!«
Hätte Nathan gewollt, hätte er natürlich einen Blick in die Gedanken seines Gegenüber werfen können. Doch darauf verzichtete er. Auch dies hatten ihm die Thyre beigebracht – dass es unter allen Umständen galt, die Privatspähre der Gedanken und die Unversehrtheit der Selbstbestimmung zu achten, es sei denn, man hatte eine auf Gegenseitigkeit beruhende Vereinbarung unter Freunden getroffen, oder der Bestand der Gemeinschaft war in Gefahr. Ein flüchtiger Blick mochte durchgehen, hin und wieder ließ er sich wohl kaum vermeiden, aber tatsächlich Stück für Stück zu betrachten, was im Kopf eines anderen vorging, war undenkbar. Kurz gesagt: Die Gedanken eines anderen zu stehlen, war unziemlich, solange man die Gelegenheit hatte, miteinander zu sprechen. Ein jeder hatte das Recht, was er dachte, auch in
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