Totenbeschwörung
Hintergrund zu verschaffen, wurden Fotos aufgenommen. Er musste lachen, den Arm um ein Mädchen legen, das er nie zuvor gesehen hatte und dem er wohl auch nie wieder begegnen würde, und mit zwei kleinen Kindern zu seinen Füßen posieren. Die Bilder kamen, gemeinsam mit Kreditkarten, mit denen er nirgendwo auf der Welt Geld bekommen würde, und weiteren Kleinigkeiten, die seine Identität bestätigten, in eine lederne Brieftasche, in der sich unter anderem auch ein scheckkartengroßer Solarrechner befand.
Als sie später unterwegs ins Londoner Hauptquartier waren, erklärte Chung Nathan, wie der Taschenrechner funktionierte. Nathan erkannte sofort das Dezimalsystem wieder, von dem ihm der Thyre Ethloi erzählt hatte, und brauchte nur wenige Sekunden, um die Zahlenwerte der Ziffern zu begreifen. Von diesem Zeitpunkt an war der Taschenrechner sein ganzer Stolz.
Als sie in der Zentrale eintrafen, war es zu spät, Nathan noch mit allen bekannt zu machen. Er bekam ein eigenes Zimmer angewiesen und sank beinahe augenblicklich auf ein Bett, in dem er so lange schlafen konnte, wie er wollte. Unter normalen Umständen hätte ein einziger Beamter vom Dienst genügt. Doch von heute Nacht an würden bis auf weiteres vier Beamte Dienst tun; und unten im Hotel waren drei Zivilbeamte des Sicherheitsdienstes stationiert, die nun zusätzlich zu ihrer Aufgabe, unauffällig auf Zek Föener aufzupassen, auch noch einen Extra-Job zu bewältigen hatten.
Während Nathan schlief, gingen die vier diensthabenden Beamten weiterhin ihren Pflichten nach und bereiteten sein Programm für den nächsten Tag vor. Morgen war Nathans erster Schultag. Er hatte einiges zu lernen, und das E-Dezernat ebenfalls, sodass beide davon profitieren würden. Aber wie Trask bereits jedem klar gemacht hatte, bestand ihr Ziel keineswegs darin, Informationen zu gewinnen, jedenfalls nicht in erster Linie, sondern darin, sie zu teilen. Zum Wohle Nathans und im Angedenken an seinen Vater, Harry Keogh. Nur eine Handvoll Menschen hatte ihn je gekannt, und kaum jemand hatte gewusst, dass er der Necroscope war. Doch die ganze Welt stand in seiner Schuld, vielleicht sogar zwei Welten, und in beiden hatte man ihm übel mitgespielt. Dies sollte nun so etwas wie eine Wiedergutmachung werden ...
In den frühen Morgenstunden wurde im Perchorsk-Projekt tief unter dem Ural auch Siggi Dam zu einer Art Wiedergutmachung herangezogen. Doch in ihrem Fall war es Turkur Tzonov, dem Rechenschaft abgelegt werden musste, und in dieser Hinsicht hatte sie nicht viel zu bieten. Außerdem bestand das Ziel diesmal tatsächlich darin, Informationen zu gewinnen, und zwar um jeden Preis!
Gegen halb drei drehte sich ein Dietrich im Schloss von Siggis Tür und sie wurde aus dem Schlaf gerissen. Im festen Glauben, dass dies unmöglich wahr sein könne, dass sie womöglich einen Albtraum habe, fuhr sie hoch und sah Tzonov, Stabsfeldwebel Bruno Krasin und Alexei Yefros in ihr Zimmer eindringen. Die drei traten an ihr Bett. Benommen und nur halb wach blinzelte sie, als es so plötzlich hell wurde. Ihr blieb gerade genug Zeit, vor ihnen zurückzuweichen, sich die Lippen zu befeuchten und zu fragen: »Was?«, bevor Tzonovs Hand sich auf ihren Mund legte und Krasin sie festhielt, während Yefros ihr eine Nadel in den Arm stieß.
Dies endlich ließ sie erwachen, und hätte Tzonov ihr nicht die Hand auf den Mund gepresst, hätte sie geschrien. Doch schon im nächsten Augenblick begann die Droge zu wirken. Sie schlief wieder ein, zumindest ihr Körper. Danach hatten sie es so eilig, dass sie es noch nicht einmal für nötig hielten, ihr die Augen zu schließen. Unfähig, ihre Arme oder Beine zu bewegen, hing Siggi über Krasins kräftigen Schultern und bekam alles nur noch wie durch einen Nebelschleier mit.
Die Wände des Korridors flossen an ihr vorüber und hüpften bei jedem von Krasins Schritten in Zeitlupe auf und nieder. Eine flackernde Neonröhre, die kurz davor stand, den Geist aufzugeben, spiegelte sich in den metallenen Wandverkleidungen. Kopfüber ging es durch die Magmasse-Ebenen hinab in den Kern, wo kein Einziger der Techniker und Wissenschaftler zu sehen war, die sich üblicherweise hier tummelten. Tzonov hatte sie entweder weggeschickt oder ihnen irgendwelche Aufgaben übertragen, um sie andernorts zu beschäftigen. Über stählerne Leitern in der gewölbten Wand des Kerns ging es tiefer hinab, vorbei am hellen Gleißen des Sphärentores, bis sie an eine Abdeckung kamen, die ein
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