Totenbeschwörung
den weit aufgerissenen Mündern sickerte Blut.
Noch nicht einmal eine Stunde war vergangen, seit Nestor und seine Männer auf dem sanft abfallenden, baumbestandenen Hügel gelandet waren. Unter normalen Umständen hätten sie sich von hier aus bequem wieder in die Lüfte erheben können. Doch wütend und verstört, wie sie waren, flohen sie nun hastig und überstürzt. Zahar, dessen Flieger ungeschoren davongekommen war, zog Grig hinter sich in den Sattel, während Nestor seine geschwächte Bestie bestieg. Schlitternd rutschten sie den Abhang hinab, walzten das Strauchwerk nieder und spürten jeden einzelnen Knochen im Leib, ehe sie endlich in der Luft waren. All dies schürte Nestors Zorn nur noch mehr.
Kaum hatten sie abgehoben, befahl Nestor Zahar, nach Hause zu fliegen. Er folgte ihm ein Stück weit, doch dann ging er auf einem nach Süden hin gelegenen Plateau in den Grenzbergen nieder. Dort rieb er seinem Tier seinen Speichel in die Wunden, um die Heilung zu beschleunigen. Danach hieß er es ausruhen und ein Weilchen dösen, während er am Rand des Felsens stand, hinab auf die Sonnseite blickte und die Ereignisse der vergangenen Stunden noch einmal vor seinem inneren Auge Revue passieren ließ. In dem Maß, in dem sein Zorn nachließ, wurde ihm klar, wie katastrophal diese Nacht bisher für ihn verlaufen war.
Zunächst einmal hatte er einen Flieger eingebüßt. Dafür war nicht einfach Ersatz zu finden. Dann war Grig schwer verwundet worden und während der nächsten Sonnunter wahrscheinlich zu nichts zu gebrauchen. Außerdem hatte Gorvi der Gerissene ihm Feindschaft geschworen. Zweifellos würde er versuchen, ihm Ärger zu bereiten. Nun, zumindest dies war Nestor nicht neu! Doch was den Rest anging, hatte er eine empfindliche Niederlage erlitten und nichts erreicht, was sich dagegen aufrechnen ließ. Niedergeschlagen stand Nestor da, völlig am Boden zerstört. Seine Stimmung war auf dem Tiefpunkt, und das nicht nur wegen des furchtbaren Desasters der heutigen Nacht. Denn irgendwo in seinem Hinterkopf, bereit, ihm jeden Augenblick ins Gesicht zu springen, nagte etwas anderes an ihm – der Gedanke an ...
... Lady Wratha!
Sie war da, hatte mitbekommen, was er dachte! Er sah sie vor seinem geistigen Auge und sie lächelte ihn an! Es musste an ihrem ausgeprägten Mentalismus liegen, der seine diesbezüglichen Fähigkeiten bei Weitem übertraf. Nestor hatte sich ihr als das offenbart, was er in Wirklichkeit war – ein liebeskranker junger Mann! Wie warm und weich ihre Brüste sich anfühlten ... Er brauchte nur daran zu denken und seine Hände begannen zu zittern, so wie sie damals gezittert hatten in jener Nacht auf dem Dach der Wrathspitze! Der einzige Unterschied zu damals bestand darin, dass er nun erkannte, mit welcher Leichtigkeit sie einen unerfahrenen Geist wie den seinen zu beeinflussen vermochte, wie leicht es ihr gefallen sein musste, ihm diese Visionen vorzugaukeln.
Doch andererseits ... wenn sie wirklich wollte, dass er in dieser Weise an sie dachte ... dann womöglich deshalb, weil sie ihrerseits auch ihn ... wollte!
»Unerfahren, wie wahr!«, sagte sie und trat hinter einem Felsblock hervor. Mit einem Mal schien sich alles rings um Nestor zu drehen. »Aber mach dir nichts draus! Immerhin habe ich hundert Jahre Zeit gehabt, meine Erfahrungen zu sammeln. Und ich sage dir eines: Jeder andere, der durchgemacht hätte, was du hinter dir hast, hätte mir binnen eines Tages aus der Hand gefressen!«
»Was willst du von mir?« Er kam sich vor wie ein Trottel, doch ihm fiel nichts Besseres ein. Natürlich wollte sie mit ihm spielen, was sonst, nun, da sie wusste, dass er ihr verfallen war. Oder ... wollte sie etwa ihren Anteil an der Beute einfordern?
»Nichts dergleichen!« Sie schüttelte den Kopf. »Was du hast, gehört dir, und was du möchtest, erhältst du, sobald die Sonne aufgeht, in der Wrathspitze – wenn ich mich zu Bett begebe. Meinetwegen auch in der Saugspitze, falls du darauf bestehen solltest. Ich will auch nicht, dass du mir aus der Hand frisst, sondern ... Ich liebe dich! Vielleicht wärst du ja schon eher zu mir gekommen oder ich zu dir, wenn du dir nicht eine Geliebte von der Sonnseite mitgebracht hättest. Und, bist du jetzt glücklich? Hat sie es geschafft? Ah, das glaube ich nicht! Eine Zeit lang vielleicht; aber du bist nun ein Wamphyri, Nestor, wenn auch ein reichlich sonderbarer! Es gibt Dinge, die hast du noch nicht abgelegt; und bei dir ist es immer noch
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