Totenbeschwörung
hatten sie keineswegs im Sinn, ein Tributsystem zu errichten. Gemeinsam die Sonnseite anzugreifen, womit ja auch Wratha begonnen hatte, um ihre Stätten mit Leutnants, Knechten, Kriegern und Flugbestien zu versorgen und sich derart auf einen Krieg vorzubereiten, war einfacher und ging wesentlich schneller. Da ihnen die Streitmacht der Lady für den Moment überlegen war, blieb den anderen dreien nichts übrig, als zähneknirschend davon Abstand zu nehmen, über die Niederlassungen der ihr dienstbaren Szgany herzufallen. Doch dafür wüteten sie umso schlimmer unter den übrigen Travellern, vor allem in den Regionen westlich des Großen Passes.
Die letzte Felsenburg füllte sich mit Leben – wenn man es denn so nennen wollte, und in gewissem Sinne war Wratha zufrieden. Ein paar Dinge ließen ihr jedoch keine Ruhe, allem voran die Tatsache, dass Nestor Leichenscheu es ablehnte, Siedeldorf anzugreifen. Wratha vermutete, dass Nestor seine verlorene Liebe, Misha, nicht in Gefahr bringen wollte. Seinen wahren Grund jedoch kannte sie nicht, nämlich dass er nur darauf wartete, bis sein Erzfeind von weit her zurückkehrte, um Misha letztlich für sich zu beanspruchen. Erst dann wollte Nestor zuschlagen und dann würden sie beide ihm gehören ...
Wenn sie nicht gerade auf der Sonnseite jagten, den Tribut einsammelten oder sich um die Verwaltung ihrer Stätten kümmerten, verbrachten Nestor und Wratha den größten Teil ihrer Zeit gemeinsam. Sie fühlten sich zueinander hingezogen und was sie miteinander verband, wurde immer stärker. Wratha musste sich eingestehen, dass sie unablässig an Nestor dachte. Nun, da er ihr gehörte, hatte sie es aufgegeben, heimlich in seinen Geist einzudringen. Doch der Gedanke an ihn, an seinen kräftigen jungen Körper, seine Energie und seine Entschlusskraft, die der ihren gleichkam, ließ ihr keine Ruhe mehr. Er war der geborene Anführer, selbst unter den Wamphyri. Eines Tages könnte sich das zum Problem auswachsen, doch bis dahin war es noch lang. Vielleicht konnten sie den Knochenthron ja miteinander teilen!?
Dann müsste Wratha natürlich auf ihre Lustsklaven verzichten. Nur ... das hatte sie bereits! In der Wrathspitze spielten sie keine Rolle mehr. Seit ihrer ersten Nacht mit Nestor hatte sie keinen anderen Mann mehr angesehen. Es war nicht nötig gewesen, denn noch nie hatte sie eine derart tiefe Befriedigung empfunden; und selbstverständlich würde Nestor in Zukunft auch auf seine Vampirfrauen verzichten müssen. Doch wie es aussah, hatte auch er dies bereit getan. Seine Sklavinnen sah er nicht einmal mehr an und selbst seine ehemalige Geliebte von der Sonnseite, Glina, die ja so unschuldig tat, übte keinerlei Wirkung mehr auf ihn aus. Auch wenn Wratha ihm aus reiner Gewohnheit hin und wieder nachspionierte, musste sie feststellen, dass es nichts nachzuspionieren gab.
In der letzten Felsenburg hatte sie demnach niemanden mehr zu fürchten. Doch wie sah es auf der Sonnseite aus?
Eines Sonnaufs, nach vier Monaten äußerster Betriebsamkeit, aßen Nestor und Wratha während der Dämmerung zu Abend. Es war zwar nichts Außergewöhnliches, aber dennoch sehr schmackhaft: auf Holzkohle gegrilltes Spanferkel und in Branntwein eingelegte Früchte von der Sonnseite, dazu ein Wein, der es in sich hatte. Danach schliefen sie miteinander, und noch einmal, als sie wieder erwachten. Anschließend versuchte Wratha ein letztes Mal, ihn davon zu überzeugen, dass es am Besten wäre, wenn sie gemeinsam mit Canker einen Angriff auf Siedeldorf starteten – vorgeblich, um Lardis Lidesci zur Strecke zu bringen. Doch Nestor ließ sich natürlich nicht umstimmen.
Trotz ihrer Enttäuschung empfand die Lady seltsamerweise keinerlei Zorn auf Nestor. Wie sollte sie ihm auch böse sein, ihm, ihrem Geliebten, dem jungen, gut aussehenden Lord Nestor Leichenscheu von der Saugspitze? Sie seufzte innerlich auf.
Ach?, fragte sie sich. Ist es denn wirklich möglich, dass eine Vampirlady etwas Derartiges empfindet? Bin ich tatsächlich so ... weich? So verletzlich? Nicht anders als irgendeine gewöhnliche Szgany-Schlampe von der Sonnseite? Bin ich etwa eifersüchtig? Doch worauf? Auf ein Mädchen aus seiner Vergangenheit, an dessen Namen er sich noch nicht einmal bewusst erinnert, ein bloßes Hirngespinst!? Diese Misha kann genauso gut hässlich sein, vielleicht ist sie ja sogar tot! Womöglich findet Nestor sie seiner gar nicht mehr würdig, nun, da er Wamphyri ist.
Doch trotz all ihrer Bemühungen, die
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