Totenbeschwörung
ihr von der Sonnseite mitgebracht hatte!
Glina, ha! Er hätte auf Canker hören sollen. Es war ein Fehler gewesen, sie in die Saugspitze zu holen. Bei der Aufstellung der Dienstpläne ging sie gerecht und mit Umsicht vor, was ihr einen gewissen Rückhalt in der Stätte verschaffte. Die Frauen mochten sie und da Glina den weiblichen Bediensteten vorstand, suchten auch die männlichen Knechte und die Leutnants sich gut mit ihr zu stellen. Sie hatte es in der Hand, die Sklavinnen zeitgleich mit ihren jeweiligen Geliebten einzuteilen, wenn man sie darum bat oder ihr einen Gefallen tat. Fest stand, Nestor hatte ihr zu viel Macht eingeräumt!
Und dann noch dieses Kind – ein menschlicher Säugling in der Saugspitze! Obwohl sein Fleisch süß und wohlschmeckend war und ein einziger Biss genügt hätte, ihn zu töten, gingen die Vampire in der Stätte mit ihm um, als handle es sich um den leiblichen Sohn ihres Gebieters. Seinen Blutsohn! Das konnte nur auf Glinas Mist gewachsen sein. Als ob er eines Tages Nestors Ei bekommen und damit zum Lord werden sollte!
Falls sie dies glaubte, befand sie sich auf dem Holzweg. Die Saugspitze war nämlich erst der Anfang! Als Nächstes war die gesamte Wrathhöhe an der Reihe. Bald würde sie Leichenspitze heißen. Dann kam die Sonnseite, und natürlich die Sternseite einschließlich der brandgeschwärzten, geborstenen Stümpfe der eingestürzten Felstürme, zumindest derjenigen, die noch bewohnbar waren. Und anschließend Turgosheim im Osten. Ja, warum eigentlich nicht!?
Und das Ganze mit Wratha an seiner Seite? Nun, fürs Erste gewiss ...
Aber das eigentliche Ziel des Nekromanten Lord Nestor Leichenscheu von den Wamphyri lag woanders. Er sah sich bereits als alleiniger Herrscher einer gewaltigen Vampirdynastie, die sich von hier bis zur Großen Roten Wüste und weiter noch bis in Länder erstreckte, die noch gar nicht entdeckt waren ... Doch zuerst musste er Rache an seinem Widersacher üben! Dies machte Wratha jedoch zunichte, wenn sie über die Szgany Lidesci herfiel.
Er musste sie aufhalten! Abrupt wandte er sich von seinem Fenster ab und sah, dass der Hunde-Lord in der Tür stand und ihn musterte.
»Du brauchst dich nicht zu beeilen«, bellte Canker. Er hatte Nestors letzten Gedanken gelesen, was ihm nicht schwergefallen sein dürfte, immerhin hatte Nestor laut genug gedacht. »Es sei denn, du willst sie vor einem Unglück bewahren. Ich für mein Teil halte es allerdings für besser, wenn Wratha ihre Lektion ein für alle Mal lernt – gemeinsam sind wir stark, nur einzeln kann man uns besiegen!« Mit einem Satz war er bei Nestor und warf ebenfalls einen Blick aus dem Fenster.
Zahar hatte Canker herbegleitet. Es war zwar nicht notwendig, denn sowohl in der Saugspitze als auch in der Räudenstatt wusste ein jeder, dass Nestor und Canker Freunde waren. Doch es war allgemein Brauch und eine übliche Vorsichtsmaßnahme in der Feste, jeden Besucher mit einer Eskorte zu versehen, selbst wenn er eingeladen war.
»Geh, ruf die anderen«, wandte Nestor sich an Zahar. »Binnen einer Stunde brechen wir auf. Aber lass zuerst meinen Flieger satteln, es kann sein, dass ich schon vorausfliege.«
Nachdem Zahar gegangen war, fragte er Canker: »Wratha vor einem Unglück bewahren? Was soll das heißen?«
»Ich vermag in die Zukunft zu sehen«, erwiderte der Hunde-Lord. »Es ist zwar eine äußerst zweifelhafte Angelegenheit, aber manchmal, wenn ich träume, erblicke ich Dinge ganz ohne mein Zutun! Auf der Sonnseite werden sie Wratha die Hölle heiß machen! Sie greift die Lidescis an, habe ich recht? Das dachte ich mir! Sie werden sie gebührend empfangen, dessen sei gewiss. Deshalb habe ich dich aufgesucht – um dich davor zu warnen, mit ihr zu fliegen.«
»Hast du in deinem Traum etwa auch mich gesehen?« Nestor wusste, dass man sich auf Cankers Voraussagen verlassen konnte. Oft genug hatte der Hunde-Lord den Beweis dafür geliefert, auch wenn es sich bislang stets um Kleinigkeiten gehandelt hatte.
»Weder dich noch mich«, gab Canker zur Antwort. »Ich bin aber trotzdem gekommen, um auf Nummer sicher zu gehen.«
»Wird ihr etwas geschehen?«
»Keine Sorge, nur ihr Stolz wird verletzt. Aber sie wird Verluste erleiden! Doch verrate mir eines: Wie wolltest du sie denn aufhalten?«
»Ich hätte natürlich versucht, sie mittels meiner Gedanken zu erreichen, vielleicht von einem der äußeren Balkone aus. Wäre dies fehlgeschlagen, wäre ich ihr nachgeflogen und hätte versucht, sie
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