Totenbeschwörung
Stimme war unverkennbar. War dies wirklich noch der Hunde-Lord? Nestor konnte es nicht fassen. Von Cankers Schnauze troff der Geifer, er hatte die Lefzen zurückgezogen und scharfe, gefährlich aussehende Reißzähne entblößt. Sein Blick sprühte vor Wildheit – so hatte Nestor ihn noch nie erlebt!
»Was ist denn los, mein Freund?«, fragte Nestor ruhig, mit gedämpfter Stimme. Er blieb gelassen, und dies war auch gut so, denn es brachte Canker wieder zur Besinnung.
»Eh?« Canker schüttelte sich. Er blickte erst Nestor, dann Zahar an und dann wieder auf das Mädchen. Sie erwiderte seinen stechenden, tierhaften Blick, wich vor ihm zurück und fauchte selbst wie ein wildes Tier. Das nackte Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Doch als Canker einen Schritt auf sie zu machte und mit einem Mal drohend vor ihr aufragte, wurde ihr klar, dass sie ihm nichts entgegenzusetzen hatte. Stocksteif stand sie da, die Arme angelegt und am ganzen Körper zitternd. Dann brach sie mit verdrehten Augen zusammen. Der Hunde-Lord fing sie auf. Sanft schlossen sich seine riesigen Pranken um sie.
»Eh?«, sagte er abermals, zu Nestor gewandt. »Ist es denn nicht offensichtlich, was – oder vielmehr wer – sie ist?«
»Nein!« Kopfschüttelnd musterte Nestor das Mädchen in Cankers Armen. »Keineswegs. Etwas wie sie habe ich noch nie gesehen.«
»Ich schon«, bellte Canker, »und zwar sehr oft! In meinen Träumen! Sag bloß, ich habe sie dir nicht eingehend genug beschrieben? Doch, das habe ich! Wenn du wissen willst, wo sie herkommt, brauchst du doch bloß deine Augen zum Himmel zu heben, Nestor. Sieh nur, wie der Mond dahinjagt! Sie ist meine Angebetete, die Mondgöttin!«
Nestor warf einen Blick zum Himmel, starrte erst den Mond und dann voller Verblüffung Canker an. »Deine ...?«
»Ganz recht! Endlich!«, triumphierte der Hunde-Lord. »Sie hat mich erhört. Meine Lieder haben sie dazu bewogen, vom Himmel herabzusteigen, und als wahre Göttin hat sie sogar die Hölle durchschritten, um aus eigenem freiem Willen an meiner Seite in der Räudenstatt zu leben!«
SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Nathan Keogh mochte sich nun zwar mit Zahlen auskennen, nicht jedoch mit Buchstaben. Er war ein Analphabet. Die Szgany der Sonnseite kannten Zeichen und Symbole, um Pfade und Wege zu markieren, aber keine Schrift. Darum runzelte Nathan nur die Stirn, als Ben Trask ihm die Speisekarte reichte, und schüttelte entschuldigend den Kopf. »Ich nehme ... dasselbe wie du.« Er bedachte seinen Mentor mit einem vielsagenden, beinahe vorwurfsvollen Blick, doch dies hatte nichts damit zu tun, dass sie hier mitten in London in einem indischen Restaurant saßen und Essen bestellten.
Trask hatte nicht die Absicht gehabt, seinen Schützling in Verlegenheit zu bringen. »Ach, entschuldige bitte!« Er hob die Hände und ließ sie mutlos wieder sinken. »Ich habe nicht daran gedacht«, erklärte er mit einem trockenen Lächeln.
»Oh, ich weiß, woran du denkst«, erwiderte Nathan mit einem Nicken. »Du hast darüber nachgedacht, was für ein merkwürdiger Kerl ich doch bin – ohne jede Bildung, oftmals linkisch, nach euren Maßstäben zumindest, und ziemlich primitiv. Gleichzeitig jedoch bin ich ein potenzieller Supermann, die ideale Waffe. Und genau so würdest du mich gerne einsetzen, als Waffe! Du willst mich benutzen, nicht anders als Tzonov auch!«
»Aber ich ...« Trask, der menschliche Lügendetektor, setzte zu einer Erwiderung an, wollte es abstreiten, hielt dann aber inne. Er brauchte Nathan noch nicht einmal in die Augen zu blicken, um zu wissen, dass er die Wahrheit sprach. Genau dies war ihm durch den Kopf gegangen, wenn auch nur für einen kurzen Moment und auch nicht ganz so, wie Nathan es auffasste. Darum sagte er: »Nicht wie Tzonov, nein!«
»So?«
»Wenn du schon meine Gedanken lesen musstest, dann hättest du sie wenigstens zu Ende lesen können. Du schlägst ja auch kein Buch auf, liest nur die ersten paar Seiten oder meinetwegen auch ein Kapitel in der Mitte und glaubst, du hättest die ganze Geschichte verstanden!«
»Was gibt es denn da zu verstehen?«
»Du würdest eine fantastische Waffe abgeben, das stimmt«, nickte Trask. »Genau das habe ich gedacht. Und ich würde dich auch gerne ›benutzen‹, wenn du es denn so nennen willst. Nicht für mich, Nathan, sondern um die Welt zu retten, vielleicht sogar unser beider Welten, sollte es je so weit kommen.« Trask lehnte sich zurück. »Na gut, du willst wissen, was ich
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