Totenbeschwörung
Cankers Treppe gab ihm das Geleit ... oder war er im Begriff, sich anzupirschen? Nestors angespannte Vampirsinne fingen einen Gedanken auf, der für das Innere der Räudenstatt bestimmt war:
Ich habe hier jemanden! Einen Eindringling, ein Schleichding ... dazu noch ein Mensch! Es ... er ... tut so, als würde er dich kennen und als habe er ein Recht dazu, hier herumzuschleichen. Aber ich glaube ihm nicht! Nein, das kann unmöglich der sein, den du mir angekündigt hast, dein Freund. Nur ein Wort von dir und er ist des Todes! Das stammte niemals von einem Menschen, sondern eindeutig von einem Tier, einem Hund womöglich oder einem großen Wolf. Es waren die ungeschlachten Gedanken einer Bestie, einer Bestie allerdings, die über eine weitaus größere Intelligenz verfügte als jeder Krieger oder Wächter, der Nestor bislang untergekommen war.
Daraufhin machte sich so etwas wie Panik in ihm breit, oder wenn es schon keine Panik war, dann eine instinktive Reaktion auf die Gefahr – eine eiskalte, emotionslose Verzweiflung, die Nestor dazu bewog, sein Bewusstsein und was etwa daraus hervordringen mochte abzuschotten und sich in sich selbst zurückzuziehen – wie ein Schatten, der eins wird mit dem ihn umgebenden Dunkel. Natürlich war es sein Vampir, dessen Selbsterhaltungstrieb, der nun Nestors Handeln bestimmte. Doch falls das Wesen, das ihm auf den Fersen war, eine wie auch immer geartete telepathische Antwort erhielt, war auch diese jetzt ausgeschlossen, sodass Nestor allein war mit sich und den Trugbildern, die seine Fantasie ihm vorgaukelte. Vielleicht sollte er versuchen, den Hundefürsten zu erreichen, doch ... konnte er Canker auch trauen? Konnte er ihm tatsächlich noch trauen?
Ein paar hastige, lautlose Schritte brachten ihn an eine Kreuzung, von der mehrere Gänge und Gemächer wie die Speichen eines Rades nach allen Seiten abzweigten. Nestor entschied sich für das erstbeste Gelass zu seiner Rechten, schlüpfte, ohne ein Geräusch zu verursachen, durch das Bogenportal, das den Eingang bildete, presste den Rücken gegen die Wand und wartete. Instinktiv hatte sein Parasit einen Pulsschlag lang den Schleier, der Nestors Bewusstsein umgab, gelüftet, um den Raum zu erkunden. Es reichte aus, festzustellen, dass sich nichts, was böse Absichten hegte, sei es nun Mensch oder Tier, darin aufhielt. Das war aber auch schon alles.
Was immer Nestor folgte, musste hier vorüber. Sollte die Bestie ihn nicht bemerken, würde er sie ziehen lassen und auf dem Weg, den er gekommen war, wieder verschwinden. Andernfalls blieb ihm nur die Möglichkeit, sich auf sie zu stürzen und den Versuch zu unternehmen, sie zu töten. Das Messer dazu hielt er bereits in der Hand.
Nestor wagte kaum zu atmen und ließ seine Blicke ringsum schweifen, um herauszufinden, was sich in seinem Schlupfloch befand, wozu es diente und ob es womöglich einen zweiten Ausgang oder einen Fluchtweg gab. Allerdings vergeblich. Es handelte sich lediglich um eine leere Grotte mit einer hohen Decke, zerfallenden Felsvorsprüngen und düsteren Nischen, und es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass sich hier jemals ein Mensch aufgehalten oder sie sonst wie genutzt hatte. Sie diente jedoch einem gewissen Zweck und bot sozusagen jemandem Unterschlupf, und zwar Spinnen!
Nestor sah ihre dunklen Netze, halb so dick wie der kleine Finger eines Mannes, erst, als er den Kopf in den Nacken legte und an einer ganzen Reihe zerbröckelnder Sandsteinsimse vorbei nach oben blickte. In unregelmäßig übereinander liegenden Schichten zogen sich die Vorsprünge bis zur Decke hoch über ihm. Das Ganze sah aus wie das Innere eines windschiefen, ausgebrannten Kamins. Dazwischen spannten sich Lage um Lage die Spinnweben. In der Düsternis wirkten sie wie ineinander verschlungene Risse, die komplizierte Muster bildeten, von denen nicht eines dem anderen glich. Ein schwaches Leuchten ging von ihnen aus.
Nestor starrte wie gebannt darauf und fragte sich, was er wohl davon halten solle, als ein Zittern das Netz durchlief. Genau wie bei den taubenetzten Gespinsten wesentlich kleinerer, gewöhnlicher Feld-, Wald- und Wiesenarten, wenn diese sich daran machten, ein Insekt zu fangen, bebte alles im Gleichklang. Mit einem Mal war Nestor klar, womit er es hier zu tun hatte.
Von Kindesbeinen an hatte er sich mit den Wamphyri beschäftigt. Die Legenden der Szgany handelten von nichts anderem, obwohl es die Alten Wamphyri schon damals nicht mehr gegeben hatte. Wenn Nestor mit den anderen
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