Totenbeschwörung

Versteck wiesen. Gerne hätte Nestor sich jetzt weiter zurückgezogen. Er wagte es jedoch nicht, sich zu rühren. Diese Kreatur konnte er nicht einfach anbrüllen und sie sich damit gefügig machen. Sie gehörte nicht ihm, sondern Canker Canisohn, und auf dessen Geschöpfe konnte er keinerlei Anspruch erheben, geschweige denn, ihnen Befehle erteilen. Das Wesen hatte ihm gestattet, diesen Ort »aus freiem Willen« zu betreten. Das hieß jedoch nicht, dass es ihn auch wieder hinauslassen würde.
    Instinktiv hatte Nestor die Lider gesenkt. Dennoch registrierten die gelben Lichter des Wolfswesens das rote Leuchten in Nestors Augen. Sie wurden riesengroß, als das Ding sich dem Durchgang zuwandte, hinter dem Nestor sich verbarg. Der Körper der Bestie spannte sich. Ein tiefes Knurren stieg aus ihrer Kehle auf. Geifernd entblößte sie ein Paar Kiefer von der Größe eines Fangeisens und setzte sich ungelenk in Bewegung.
    Das Wesen war keine fünf Schritte entfernt. Da spürte Nestor eine Berührung an der Schulter!
    Ein normaler Mensch wäre vor Schreck in Ohnmacht gefallen, und noch der tapferste Szgany hätte einen Aufschrei nicht unterdrückt. Doch Nestor war kein Szgany mehr. Er war Wamphyri! Er bewegte sich kaum von der Stelle, drehte den Körper nur wenige Zentimeter, aber seine Messerhand stieß blitzschnell zu und traf zielsicher, was auch immer ihn berührt hatte.
    Die scharfe Klinge schnitt in ein seilartiges Etwas oberhalb seiner linken Schulter, ohne es jedoch ganz zu durchtrennen. Stattdessen hatte es den Anschein, als werde die Waffe von dem schlanken, haarigen Strang angezogen. Er musste sie mit einem heftigen Ruck nach unten reißen, um sie wieder freizubekommen, was ihn nur erneut mit der klebrigen Spinnwebe in Berührung brachte. Der Strang klatschte gegen den Ärmel seiner Jacke, blieb von der Schulter bis zum Ellenbogen daran haften und fing prompt an zu ... vibrieren!
    Nestor warf einen Blick zur Tür. Das Wolfswesen war stehen geblieben und duckte sich knurrend. Nur ein, zwei Schritte trennten es noch von dem Durchgang. Ein einziger Satz und ... Die geschmeidigen Muskeln spannten sich bereits.
    Gleichzeitig ließ sich von oben eine große, rote Spinne ohne jede Mühe kopfüber an dem Faden zu ihm herab. Sie war noch einen knappen halben Meter entfernt. An den Wänden glitzerten wie Rubine auf einmal zahllose Augenpaare, als weitere Spinnen sich von Gesims zu Gesims schwangen, um zu erkunden, was für ein Opfer da wohl auf sie wartete. Doch was für Spinnen!
    Verwandte dieser Kreaturen gab es auch auf der Sonnseite. Sie lebten in tiefen Höhlen, die sie nur verließen, wenn es dunkel wurde, um ihre Netze zu weben und Motten zu fangen. Diese Tiere waren zwischen sieben und neun Zentimetern lang. Ihr Biss war zwar giftig, führte aber nur in Ausnahmefällen zum Tod. Er rief ein Taubheitsgefühl, mitunter auch Lähmungserscheinungen hervor, die mit Schwindelanfällen und Erbrechen einhergingen. Doch das dauerte nicht länger an als drei, höchstens vier Stunden. Dies jedoch war die Sternseite. Die Spinnen im Felsenturm waren mindestens viermal so lang und hatten den vierzig- bis fünfzigfachen Umfang!
    Verzweifelt zerrte Nestor seinen Arm weg, mit einer solchen Gewalt, dass der Ärmel entlang der Naht riss und an dem klebrigen Spinnfaden haften blieb. Durch den plötzlichen Ruck verlor die Spinne den Halt. Sie plumpste zu Boden und rollte sich sofort zu einer Kugel zusammen. Ohne zu zögern, trat Nestor sie dem Wolfsding direkt ins Gesicht. Als Cankers Kreatur jaulend zurückwich, setzte er ihr mit erhobenem Messer nach.
    »Was soll das denn?«, jammerte Canker und erschien plötzlich mit einem Satz auf dem Kreuzweg. »Ist das nicht Lord Nestor? Sag bloß, du machst meinen Kreaturen Angst?« Er grinste breit.
    »Ob ich deinen Kreaturen ... was mache?« Nestor konnte es nicht fassen. Er war außer sich.
    »Hah!«, bellte Canker. »Oder haben sie etwa dir Angst gemacht, hm?«
    Die riesige Spinne huschte an ihnen vorüber und verschwand in der Düsternis der Höhle, während Cankers »Wachhund« sich winselnd duckte und mit eingezogenem Schwanz zurückwich. Canker blickte ihn finster an und sagte: »Gut gemacht!« Dann wies er mit dem Zeigefinger den Gang hinunter und fügte hinzu: »Und jetzt verschwinde!« Das Wesen wandte sich um und schlich von dannen, den Weg zurück, den es gekommen war.
    »Um ein Haar hätte dein Hund mich angegriffen!«, sagte Nestor vorwurfsvoll. »Und deine Spinnen sind auf mich