Totenbeschwörung
Lord Gelegenheit hat, ungestraft zu lügen, dann, sei versichert, tut er es auch. Wenn du glaubst, du könntest einem von ihnen trauen, stehen die Chancen nicht schlecht, dass er dich zum Narren hält. Wenn du mit einem der Lords lachst, dann pass auf, dass er hinter deinem Rücken nicht auch über dich Witze macht. Und wenn du ein Abkommen triffst oder einen Pakt schließt, dann gib doppelt Acht und sieh zu, dass er sich auch daran hält!«
Nestor blickte ihn ernst an. »Ist deine Freundlichkeit, die Freundschaft, die du mir entgegenbringst, etwa auch eine Farce, Canker? Belügst auch du mich? Mache ich mich womöglich zum Narren, indem ich dir vertraue? Lachst du mit mir – oder über mich?«
»Ich bin ein genauso großer Lügner wie die anderen auch«, gab der Hundefürst unbekümmert zur Antwort. »Was meine Freundlichkeit angeht: Zeige mir jemanden, der mich schief ansieht, und ich lauere ihm auf und reiße ihm die Eingeweide heraus, sobald ich die Gelegenheit dazu habe. Und einen Freund auslachen? Man kann lachen ... und man kann lachen. Aber bei dir ...« Er blieb stehen, ergriff Nestor am Arm und blickte ihm tief in die Augen. Mit einem Mal war er sehr ernst und neigte das riesige, zottige Haupt leicht zur Seite. »Bei dir ... ist es etwas anderes. Um deine Frage zu beantworten: Nein, ich werde dich nicht hintergehen. Allerdings ist dein Egel noch nicht voll ausgebildet. Lass ihn nur erst die Kontrolle übernehmen; dann könnte die Frage sehr wohl lauten, ob du mich verrätst.«
Mittlerweile hatten sie die Räudenstatt durchmessen und waren in einer kalten, zugigen Höhle angelangt, durch die eisig der Wind pfiff. Mehrere kleine, runde Fensteröffnungen in der nördlichen Außenwand boten einen Blick auf den fernen Horizont, dessen Farbenspiel unter dem Flackern des Nordlichts von Amethystblau über Indigo bis hin zu Purpurrot reichte.
Hier in dieser Höhle, die allem Anschein nach einstmals eine lang gestreckte, mit einer niedrigen Decke versehene Landebucht gewesen war, arbeitete Canker an seinem »Musikinstrument«. In blankem Erstaunen starrte Nestor auf das weiß schimmernde Durcheinander und bewunderte den Fleiß des Hundefürsten, dass er dies alles ersonnen und zu bauen begonnen hatte, während Canker voller Stolz vorsichtig zwischen den diversen, erst zur Hälfte fertiggestellten Einzelteilen einherschritt.
Sie bestanden aus hohlen Knochen, woraus sonst? Manche nicht stärker als der Arm eines ausgewachsenen Mannes, andere dagegen von unvorstellbaren Ausmaßen. Es waren die Schenkelknochen von Kriegerkreaturen der Alten Wamphyri, die in längst vergangenen Zeiten ihre Kriege geführt und auf ihren Vampirbestien in die Schlacht gezogen waren – dem sicheren Tod entgegen, der sechshundert Meter unter ihnen auf der Geröllebene lauerte. Damals hatte es unzählige Festen gegeben, deren Lords und Ladys ständig in die ein oder andere Fehde verwickelt waren. Das war auch der Grund, aus dem die tief eingeschnittenen Wasserläufe und ausgetrockneten Flussbetten der Sternseite nichts als ein einziges ungeheures Beinhaus waren.
Canker hatte damit begonnen, diese hohlen Überreste mit dem Messer zu bearbeiten, sie zu durchlöchern und die Löcher mit eingeölten Pfropfen zu versehen, die aus- und eingleiten konnten. Die derart entstandenen ... Flöten ... hatte er in einer Reihe hintereinander wie Orgelpfeifen miteinander verbunden und mit Lederriemen so aneinander befestigt, dass die offenen Enden auf den zugigen Abgrund jenseits der Landebucht wiesen. Eine Anzahl gewaltiger Klappen – die Schulterblätter ungeheurer Bestien, eine jede von der Größe eines Schiffsruders – versperrte die Öffnung der Bucht. Sie waren an Seilen befestigt und bewegten sich, wenn Canker daran zog, an Scharnieren. In der Tat schien Cankers Werk einer gewissen Ordnung zu gehorchen. Das gab Nestor zu denken.
»Da!«, sagte Canker zufrieden. »Ich sehe es dir an der Nasenspitze an! Du weißt, welches Geschick vonnöten ist, um ein solches Instrument zu bauen! Ah, und eines Tages wird dich auch meine Kunstfertigkeit begeistern, wenn ich den Wind selbst zu meinem Orchester mache und er diesen Knochen hier die wunderbarsten Töne entlockt! ... Soll ich dir zeigen, wie es funktioniert? Tritt ein bisschen zur Seite und du wirst sehen! Ah, es ist noch lange nicht vollkommen. Aber eines Tages, eines Tages!«
Unter Nestors neugierigen Blicken löste Canker die Seile der Umlenkplatten von den Winden, um die sie geschlungen waren
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