Totenbeschwörung
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ACHTES KAPITEL
Es hallte durch den gesamten Felsenturm. In der letzten großen Feste, welche die Wamphyri ihr Eigen nannten, in den leeren Hallen, in denen schlaftrunkene Vampire und eigens dazu gezüchtete Monstren Wache hielten, in den labyrinthisch ineinander verschachtelten Gängen, in den Treppenhäusern und Vorratskammern, den öffentlichen wie den privaten Gemächern hallte es wider. Gut möglich, dass es der Wind war, der aus den Eislanden herüberwehte, als sich über der Sternseite das gleißende Rund der Sonne erhob und die goldenen Gipfel des Grenzgebirges hinter Nebelschwaden verschwanden, die zwischen den Hügeln und den zerklüfteten Felsen aufstiegen. Vielleicht war es das Jammern der Ungeheuer, die in ihren Bottichen heranwuchsen, die Laute von Wesen, die einst Menschen gewesen waren und sich nun in ihrer neuen Rolle übten. Vielleicht war es das Sengen der Sonne, die von Süden her auf die Wrathspitze herniederbrannte, als wolle sie sich durch den gequälten Fels fressen, auf den sie seit Jahrhunderten herunterstach.
Durchaus möglich, dass es das war. Es hätte auch alles zusammen sein können, ein Zusammenspiel von Klängen, das durch die vergleichsweise Stille, die beinahe schmerzhafte akustische Leere der kilometerhohen Felsenburg nur verstärkt wurde. Doch es handelte sich um nichts dergleichen. Es waren die Töne, welche die von Canker Canisohn zusammengebastelten Knochen erzeugten. Es war Cankers erster tastender Versuch, die Klappen einzustellen und die morgendliche Brise durch das groteske Gewirr knöcherner Röhren zu lenken, mit denen er den Mond anzulocken gedachte.
Es hallte, wenn auch zunächst nur schwach, durch den gesamten Felsenturm, von Gorvis Gemächern am Fuß des Turmes bis zur höchsten Zinne der Wrathspitze.
Ganz sacht schlug unten in der Stätte des Gerissenen das Wasser in den Brunnen Wellen, so als rege sich etwas unter der Oberfläche. Staub rieselte in Schwaden herab. Erstaunt hoben Gorvis Wachen den Blick und blinzelten, um ihre Augen vor dem feinen, grauen Staub zu schützen.
In der Irrenstatt schreckten die Gebrüder Wran und Spiro Todesblick aus ihren blutigen Träumen. Obwohl nichts von ihnen zu sehen war, nahm Wran an, seine Wächter seien in Streit geraten. Im Halbschlaf drohte er ihnen: Gebt endlich Ruhe! Hört auf damit! Oder soll ich euch noch einmal in die Bottiche werfen und auflösen, damit endlich etwas Ordentliches aus euch wird!? Damit versank er wieder in seine grässlichen Träumereien. Doch der Lärm ließ nicht nach.
Auf seinem Lager schrie Spiro angsterfüllt auf. »Eygor, Vater! Wir haben dich doch getötet!«, wimmerte er. »Wieso bist du hier? Findet dein Geist keine Ruhe, dass du noch durch die letzte Felsenburg schleichen und auch die neue Irrenstatt heimsuchen musst wie damals in Turgosheim? Dann sei’s drum! Ich fürchte dich nicht. Denn dein Blick ist leer. Die Zeiten sind vorüber, da du mich mit einem Wimpernschlag vernichten konntest!« All dies klang sehr tapfer und mutig. Doch Spiros Stimme erstarb in einem heiseren Krächzen. Das Einzige, was nun noch zu hören war, war der Gesang der Knochen.
In der Saugspitze führten Zahar und Grig gemeinsam die Aufsicht über die Wachsoldaten und gemeinen Knechte, die sie als Posten aufgestellt hatten. Denn sie nahmen Nestors Anweisungen, die schrecklichen Drohungen und unheilvollen Warnungen, die er ausgestoßen hatte, sehr ernst. Im Augenblick döste Grig auf einer Bank unweit der Stelle, an der Nestor ihn verlassen hatte, vor sich hin, während Zahar seinen verwundeten, doch rasch heilenden Arm und seine Hand pflegte und sich von Posten zu Posten schlich, um die Wachsamkeit seiner Leute zu überprüfen.
Das dröhnende Heulen und Tosen von Cankers Musik erschien ihm wie ein böses Omen. Da es aus der Räudenstatt kam, verhieß es nichts Gutes, vielleicht gar den Tod ihres neuen Gebieters, der sich allem Anschein nach umbringen wollte, indem er in jene unbekannten Geschosse hinabstieg, in denen es nach Hund und wilden Tieren stank. Ja, selbst unter den Wamphyri galt Canker als abartig. Nicht dass Zahar und Grig sich auch nur einen Deut um Nestors Ableben geschert hätten. Vielmehr machten sie sich ernsthafte Sorgen darum, was aus ihnen werden sollte, falls er starb.
Oben in der Wrathspitze warf Wratha sich unruhig auf ihrem Bett hin und her und rief im Halbschlaf nach ihrem Lustsklaven. Zitternd erhob er sich von seiner in einer Nische untergebrachten, mit Fellen bedeckten
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