Totenbeschwörung
das war bereits einer zu viel. Er hatte einen bleibenden Schaden hinterlassen, und Turkur Tzonov hatte recht, wenn er Perchorsk mit Tschernobyl verglich. Trask würde sogar noch weiter gehen. In seiner Vorstellungswelt hatten beide Orte manches mit der Büchse der Pandora gemeinsam. Beide bargen Gefahren, die auf ihre jeweils eigene Art nur zu leicht in der Lage gewesen wären, die ganze Welt zu vernichten. Möglicherweise ging von einem dieser Orte, nämlich Perchorsk, noch immer diese Gefährdung aus ...
Die Passagiere des Hubschraubers ahnten die Landung eher, denn dass sie sie spürten, als die Maschine sanft auf der Staumauer aufsetzte. Trasks Gedanken kehrten wieder in die Gegenwart zurück. Er blickte durch die Scheibe hinaus, die bereits von einer dünnen Schicht Eis überzogen war, das sich aus dem Sprühnebel der Fontäne des Staudamms gebildet hatte, und machte eine Gestalt in einem weißen Parka aus, die in gehörigem Sicherheitsabstand außerhalb der Reichweite des Rotors wartete. Schließlich wurde das schrille Sirren der Rotorblätter leiser, bis nur noch ein beruhigendes Whup, whup, whup! zu hören war. Mit eingezogenem Kopf kam der Copilot aus dem Cockpit und klappte ein paar Stufen heraus.
Tzonov bedeutete Trask und Goodly, ebenfalls die Köpfe einzuziehen und ihm hinab auf eine mit einem Gummibelag versehene Fläche zu folgen. Durch das Dröhnen des Rotors hindurch führte er sie zu der Gestalt im Parka, einer stattlichen Blondine, deren Aussehen sie eindeutig als Skandinavierin auswies. Sie empfing die ESPer mit einem freundlichen Lächeln, reichte jedem einen Parka und half ihnen hinein. Anschließend wandte sie sich dem Chef des sowjetischen E-Dezernats zu, umarmte ihn, legte ihm einen Teil ihres eigenen, ein paar Nummern zu großen Parkas um die Schultern und drängte ihn auf einen offenen Jeep zu, dessen Fahrer bereits auf sie wartete. Tzonov ließ alles mit sich geschehen. Dabei konnte er ein Lächeln nicht unterdrücken, das verriet, wie sehr er sich geschmeichelt fühlte. Trask und Goodly sahen einander verstohlen an, und Goodly hob fragend, wenn nicht gar sehnsüchtig eine Augenbraue. Trask antwortete mit einem Achselzucken. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als hinter Tzonov und dessen Freundin herzutrotten.
Trask nahm neben dem Fahrer Platz, sodass sein hellsichtiger Kollege mit dem Rücksitz vorlieb nehmen und sich neben Tzonov und das Mädchen zwängen musste, die sich wie ein Liebespaar aneinander schmiegten. Allem Anschein nach waren sie tatsächlich ein Paar. Über das Dröhnen des Hubschraubermotors, das Stottern der im Leerlauf vor sich hinsurrenden Rotoren und den scheppernden Auspuff des Jeeps hinweg jemanden vorzustellen, kam nicht in Frage. Tzonov unternahm noch nicht einmal den Versuch, stattdessen begnügte er sich damit, das Mädchen an sich zu drücken und ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Das Lachen, mit dem sie reagierte, ging in den Turbulenzen des Rotors unter, als der Jeep den Staudamm hinter sich ließ und in eine Straße einbog, die aus der Flanke des Abgrunds herausgesprengt worden war.
Etwa einhundertfünfzig Meter ging es die abschüssige Straße entlang aufwärts. Dann brachte der Fahrer sein Fahrzeug auf einer ebenen, asphaltierten Fläche zum Stehen und drückte so lange auf die Hupe, bis sich unter einem drohenden Felsüberhang rumpelnd die Flügel eines riesigen, elektrisch betriebenen Stahltores öffneten – der Durchlass nach Perchorsk, der Eingang zu der unterirdischen Anlage. Während ein Streifen blendend weißen Lichts nach draußen drang und der Jeep mitten hindurch in das hell erleuchtete Innere fuhr, schloss sich das Tor wieder und versperrte den Blick auf die Ödnis der Schlucht. Schließlich stellte der Fahrer den Motor ab und der Lärm wich einer beinahe schmerzlich spürbaren Stille.
Endlich konnten Trask und Goodly wieder einen klaren Gedanken fassen, und nun mussten sie darauf achten, dass nicht auch jemand anders mitbekam, was sie dachten. Als sie aus dem Jeep kletterten, sagte Tzonov: »Willkommen im Perchorsk-Projekt – beziehungsweise in dem Höhlensystem und den Gängen, in denen es einst untergebracht war. Denn heute existiert das Projekt nur noch dem Namen nach und die Anlage beherbergt etwas vollkommen anderes.«
Vom Hubschrauber bis hierher, dem äußersten Randbezirk der Anlage von Perchorsk, hatten sie höchstens anderthalb Minuten gebraucht, doch Trask war froh, dass er seinen Parka trug. Ian Goodly nicht minder. In dieser
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