Totenbeschwörung
der Uferböschung eines Flusses, der sich durch die Sonnseite zog, schauderte Nestor in seinen Fieberträumen. Wie so oft schüttelte er sich im Schlaf. Vielleicht war das ja ein Beweis dafür, dass sich tief in seinem Innern noch etwas von dem alten Nestor regte. Vielleicht aber auch nicht. Womöglich schauderte ihm ganz einfach, weil ihm bewusst wurde, zu was für einem Ungeheuer er sich entwickelt hatte.
Doch was es auch sein mochte, danach ließen ihn seine Träume eine Zeit lang in Ruhe. Und langsam, unendlich langsam, sorgte sein wandelbares Vampirfleisch dafür, dass seine Wunden heilten. Unterdessen spielten draußen vor der Höhle die Sonnenstrahlen auf den Wogen des Flusses; auf der Sonnseite brach ein neuer Tag an ...
NEUNTES KAPITEL
In Moskau schneite es heftig, als der wie eine Untertasse geformte Hawk-Senkrechtstarter der British Airways sich bis zum Landefenster hinabsenkte und Ben Trask, Ian Goodly und einhundertzehn weitere »Geschäftsleute« von Bord gingen. Turkur Tzonov persönlich holte sie an der Maschine ab und geleitete seine Gäste am Zoll vorbei aus dem Flughafengebäude, vor dem ein brandneuer, soeben hier in Moskau vom Band gelaufener Ford-Wolga »Premiere« auf sie wartete, der sie zu einem kleinen, zehn Kilometer vor der Stadt gelegenen Militärflughafen brachte. Von dort aus legten sie den Rest der Strecke mit einem düsengetriebenen Helikopter zurück. Lediglich in Kirov legten sie eine Zwischenlandung ein, um aufzutanken, ehe die stromlinienförmige, schlank wie eine Wespe gebaute Maschine einen eher nördlichen Kurs über Berezniki einschlug und weitere dreihundert Kilometer an den schneebedeckten Gipfeln des Ural entlang flog. Alles in allem dauerte die Reise von London nach Perchorsk zwei Stunden und fünfundfünfzig Minuten. Es war achtzehn Uhr zehn Ortszeit, als der Pilot den Schub wegnahm und in Gleitflug überging, den Hubschrauber zwischen den trostlosen Bergspitzen, die sich unter den düsteren Wolken abzeichneten, hindurchmanövrierte und ihn sanft in die trübe, graue Schlucht von Perchorsk sinken ließ.
Bei ihrer Ankunft in Moskau, auf den Flughäfen und auch unterwegs hatte Tzonov sich als höflicher, zuvorkommender Begleiter erwiesen, dem das Wohl seiner Gäste am Herzen lag. Doch obwohl er sie fragte, wie sie sich nach dem langen Flug fühlten, und sich nach dem Service in der Maschine, nach dem Wetter – der Winter hatte ganz Europa in seinem eisigen Griff – und einigem mehr erkundigte, gab der Chef der sowjetischen E-Spionage-Abteilung einen zwar bemühten, paradoxerweise aber zugleich nichts sagenden oder bestenfalls oberflächlichen Gastgeber ab. Oberflächlich, weil das, wonach er sich erkundigte oder was er dazu anmerkte, reichlich belanglos war, und nichtssagend, weil er sich eifrig darum bemühte, nicht den eigentlichen Grund zu erwähnen, aus dem sich Trask und Goodly hier aufhielten.
Trask glaubte die Ursache dafür zu kennen. Wenn Tzonov etwas wirklich Bedeutsames in Erfahrung bringen musste, würde er sich wahrscheinlich einfach aus ihren Gedanken bedienen. Zumindest ging er wohl davon aus, dass er dazu in der Lage wäre. Er würde es allerdings erst versuchen, nachdem sie den Gefangenen von Perchorsk gesehen hatten; denn es hätte ja wenig Sinn, Aufschluss darüber zu bekommen, was sie von der Sache hielten, ehe sie überhaupt Zeit gehabt hatten, sich ein Bild davon zu machen. Das hieß, dass der Russe vorerst weiter die Rolle des umgänglichen Begleiters und harmlosen Reiseleiters spielen würde.
Dennoch vermieden es die britischen Gedankenspione, obwohl sie natürlich gewisse Vorsichtsmaßnahmen gegen Tzonovs Abtastversuche getroffen hatten, geflissentlich, an Harry Keogh zu denken. Das verlangte ein Maß an Wachsamkeit, das man nur schwer über einen längeren Zeitraum hinweg aufrechterhalten konnte. Doch für kurze Zeit erwies es sich als nicht allzu schwierig. Um sie herum gab es ohnehin genug, worauf sie ihre Gedanke richten konnten, auch ohne sich mit Vermutungen darüber zu beschäftigen, ob der fremde Eindringling in Perchorsk etwas mit einem Mann zu tun hatte, der seit nunmehr sechzehn Jahren tot war.
Von Moskau bis Perchorsk verhielt Tzonov sich überwiegend schweigsam. Nachdem er erklärt hatte, er habe in der vergangenen Nacht bis in die frühen Morgenstunden gearbeitet, hatte er gleich nach dem Start die Beine ausgestreckt, sich in seinem Sitz zurückgelehnt und war eingeschlafen. So sah es jedenfalls aus. Damit waren seine Gäste,
Weitere Kostenlose Bücher