Totenblick: Thriller (German Edition)
löschte die Lampen nicht ohne Grund. Wer diese Akribie an den Tag legte, tat jeden Handgriff aus Berechnung. Dann noch der explizite Hinweis auf der Website, genauer hinzuschauen.
Die Kriminaltechniker des KTI hatten sämtliche Gegenstände, die Wände, jeden noch so kleinen Fitzel auf lichtempfindliche Stoffe untersucht, ohne fündig geworden zu sein.
»Was sehen wir nicht?«, raunte er zum Fenster hinaus, sicherlich auch zum ungezählten Mal.
Er dachte an Anke Schwedts Eingaben in die Suchmaske. An die großen Augen der Toten dank des Atropins.
Früher hatte man geglaubt, dass sich in den Augen der Toten ihr Mörder spiegelte, was natürlich Unsinn war. Das hätte es für die Polizei auf der ganzen Welt einfach gemacht. Der Totenblick brachte lediglich den …
Rhode setzte sich kerzengerade im Stuhl auf. »Scheiße.«
Er öffnete ein Browserfenster und stürzte sich tippend auf die neue Hoffnung, die ihm das Internet hoffentlich zutrug.
Den Anfang machte ein kurios anmutender Bericht aus einem Schlachthof aus dem Jahr 1860.
Im Auge eines toten Kalbs wollte man das Linienmuster der Fliesen auf dem Boden des Schlachthauses erkannt haben. Dieser Mann, ein Fotograf, sprach daraufhin bei Scotland Yard in London vor. Seine Idee: die Augen von Mordopfern abzulichten. Darin könnte sich der Mörder zeigen, was sich jedoch nach mehreren Versuchen als Trugschluss erwies.
Immerhin sorgte der Glaube daran, dass es funktionierte, für ein Geständnis. 1924 gestand ein Verdächtiger einen Achtfachmord in Haiger bei Gießen, weil die Polizisten ihn glauben ließen, sie könnten Bilder im Auge des Opfers sichtbar machen.
Das Zauberwort hieß Optographie.
DIE WAHRHEIT
LIEGT STETS
IM AUGE
DES
BETRACHTERS.
Rhode durchzuckte es. Buchstäblich?
Nach den ersten Zeilen über die Optographie verstand er, dass es kein Unsinn war. Sie wurde als Wissenschaft um die Fixierung des letzten Bildes definiert, das ein Lebewesen vor seinem Tod sieht. Diese Bilder wurden von dem Heidelberger Professor Wilhelm Friedrich Kühne als Optogramme bezeichnet.
Von den wissenschaftlichen Darstellungen der Augenteile und deren Aufbau, von Lichtbrechungen und fotografischen Abhandlungen wurde er als Laie überfordert. Ganz brutal fand er die Bilder von geköpften Kaninchen – und wunderte sich in der gleichen Sekunde über seinen merkwürdigen Gedankensprung. Er machte sich Gedanken über tote Tiere, während sie einen psychotischen Massenmörder suchten.
Geköpfte Kaninchen – geköpfte Mordopfer.
Während er elektrisiert weiterlas, nahm er den Telefonhörer ab und ließ sich mit dem KTI und dem Kriminaltechniker verbinden, der ihm zugewiesen worden war. Den Namen wusste er nicht mehr. Er konnte sich nur an die Namen der Toten erinnern, wie es den Anschein hatte. »Ich brauche alles«, sagte er aufgeregt, »was Sie mir über Optographie sagen können. Sofort! Schnappen Sie sich außerdem so viele Kollegen, wie Sie brauchen, und untersuchen Sie die Leichen von Wolke und McDuncan diesbezüglich.« Er legte auf, weil er weder Ausreden noch Beschwerden hören wollte. Noch war er Leiter der SoKo.
Seine Gedanken schweiften für einen Moment von den neuesten Informationen ab. Rhode dachte an die Kriminalkommissarin.
»Anke, du weißt nicht, wie sehr du uns geholfen hast«, sagte er leise und schaute auf ihren ehemaligen Schreibtisch. Sollte sich der Verdacht der Optographie bewahrheiten, bekamen sie endlich die Hinweise des Verrückten zu sehen.
Rhode bremste sich, so gut es ging. Nichts wäre schlimmer als eine weitere Enttäuschung.
Die Tür öffnete sich, ohne dass jemand geklopft hätte, und Lackmann trat ein. Er hielt sich den Bauch, der Siebziger-Jahre-Anzug in undefinierbarem Hellbraun schlackerte noch mehr um seinen dürren Körper. »Da bin ich wieder.« Er hatte abgenommen. Der oberste Knopf des rosa Hemds war offen, wie man am Kragen sah, die grüngemusterte Krawatte lag lose darum.
Rhode winkte ihn zu sich. »Anke hat was entdeckt«, sagte er.
***
Leipzig, Gohlis-Süd, 6. Dezember
Ares stand vor dem russischen Generalkonsulat in der Turmgutstraße und klingelte erneut. Da man auf seine telefonischen Anfragen nicht reagierte, kam er persönlich vorbei.
Weil es sich um eine bessere Adresse handelte, trug er einen dunklen Anzug und seinen schwarzen Mantel darüber. Gegen die Kälte hatte er sein Wollkäppi aufgesetzt, das den eleganten Eindruck etwas schmälerte, vor allem da sich das Abzeichen der Demons daran befand.
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