Totenbraut (German Edition)
sah ich die hellen Stellen an den Wänden, an denen Stickereien gehangen hatten, bevor Vater sie verkaufte. In dem Winkel, in dem meine Mutter früher drei Ikonen aufgestellt hatte, stand nur noch das Bild der Heiligen Jungfrau. Ich sah den ausgetretenen Boden und die schiefen, vergilbten Fensterläden. Und ich hasste diese verlassene Stätte der Erinnerungen mehr als je zuvor.
„Ein einsam gelegenes Haus“, bemerkte Jovan. „Weit weg vom Taldorf. Aber Ihr habt ja Gesellschaft von vielen Töchtern.“ Vater nickte düster und schenkte ihm Rakija ein. Es war die Fastenzeit vor Ostern, was für unseren Vater allerdings nie ein Grund war, sich beim Trinken zu mäßigen. Der Branntwein war billig und viel zu scharf, aber Herr Jovan verzog nicht einmal den Mund, während er einen Schluck nahm.
„Sieben Töchter waren es“, murmelte Vater. „Eine Unglückszahl. Die zweitälteste stürzte vor einiger Zeit zu Tode. Nun sind es noch sechs hier im Haus. Jelka, die älteste, ist schon siebzehn. Die drei da hinter der Stiege sind die jüngsten.“
„Und das Mädchen, das bereit war, mich mit dem Knüppel zu erschlagen?“, fragte Jovan.
„Jasna“, sagte mein Vater, ohne mich anzusehen. „Die mittlere, vierzehn Jahre ist sie alt, bald fünfzehn. Sie sollte diejenige sein, die wie die Mitte der Waage ist, doch statt auszugleichen, bringt sie Unruhe in die Familie, wo sie kann. Zankt sich ständig mit der ältesten, sie sind wie zwei Hennen, die sich die Augen auspicken wollen.“
Jelka, die das Pferd versorgt hatte und nun mit nassen Haaren neben mir saß, stieß mir mit dem Fuß warnend gegen den Knöchel. Dabei hatte ich gar nicht vorgehabt, Vater zu widersprechen.
Jovan lachte. „Tüchtig scheinen Eure Töchter jedenfalls alle zu sein. Fünf habe ich nun gesehen, aber wo ist die sechste? Sag du es mir, Jasna!“
Mein Herz machte einen Satz. Unwillkürlich verbarg ich meine Hände, die von der Arbeit rau und schwielig waren. „Bela schläft, Herr.“
„Obwohl die Räuberbande in der Nähe ist?“, bemerkte Jovan mit einem Schmunzeln. „Nun, zumindest hat sie einen gesegneten Schlaf. Wie kommt es nur, dass Ihr und Eure Töchter verschont worden seid, Hristivoje?“
„Kosac ist grausam, aber nicht dumm. Er sieht, wo es was zu holen gibt“, knurrte Vater. „Er stahl uns die letzten Ziegen von der Weide und seitdem haben wir Ruhe. Den nutzlosen alten Ackergaul hat er uns gelassen.“
„Es wundert mich, dass er Euch in Ruhe lässt. Frauen dürften wertvoller sein als Ziegen, könnte man meinen.“
Auf Vaters Stirn erschien wieder die steile Zornesfalte. „Soll er es wagen“, murmelte er. „Das Kämpfen habe ich nicht verlernt!“
Das Trinken auch nicht , setzte ich in Gedanken hinzu.
Jelka stand auf, um das Feuer zu schüren. Dabei scheuchte sie unsere Schwestern mit einem gezischten Befehl nach oben. Nackte Füße patschten auf den Holzstiegen. Majda stolperte, fiel hin und begann zu weinen und Danica und Mirjeta nahmen sie in ihre Mitte.
„Wenn ich an Eurer Stelle wäre, würde ich mich nicht auf einen Säbel und alten Siegesruhm verlassen“, meinte Jovan. „Warum zieht Ihr nicht ins Taldorf ?“
Weil die Leute vom Dorf mit uns nichts zu tun haben wol len, hätte ich am liebsten gesagt. Weil unser Vater mit jedem Streit anfängt und sich lieber hier oben verkriecht und seinen Erinnerungen nachhängt.
„Weil wir nichts besitzen außer diesem Haus“, klagte mein Vater und stürzte noch einen Becher Rakija hinunter. „Sollen wir es zurücklassen? Ich habe es teuer erkauft mit meinem Blut, meinem Sold aus dem Militärdienst. Zum Krüppel bin ich dafür geworden, lahm und taub auf einem Ohr. Und außerdem: Niemand kauft uns jetzt das Haus ab. Nein, Lazar Kosac wird bereits gejagt und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er am nächsten Baum aufgehängt wird. Und dann werden die Reisenden wieder die Straße durch die Berge nutzen und bei uns Rast machen. Wir müssen nur durchhalten.“ Und er setzte leiser hinzu: „Seht Euch das Elend mit diesen vielen Töchtern doch nur an! Volle Augen, aber leere Hände! Gott weiß, dass es einfacher wäre, wenn ich Söhne anstelle von Töchtern hätte.“
Jovan musterte Jelka über den Rand seines Bechers hinweg. Es war ein Blick, der mir gar nicht gefiel. Meine älteste Schwester war ernst, aber hübsch, mit Lippen wie Schwalbenflügeln und stets geröteten Wangen. Bei unseren seltenen Besuchen im Taldorf konnten die Männer die Augen nicht von ihr
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