Totenbraut (German Edition)
er. „Straft nicht Eure Töchter für die Ungerechtigkeit des Schicksals.“
Mein Vater hielt noch einen Moment den Arm zum zweiten Schlag erhoben, dann senkte er ihn und schniefte durch die Nase. Seine Augen waren gerötet und glasig. Langsam ließ er sich auf den Stuhl zurücksinken und griff zum Becher.
„Wie wahr“, murmelte er. „Sie sind eine Last, alle sechs.“ Am liebsten hätte ich ihn angeschrien, dass ohne uns das Feld verlassen wäre, das Essen nicht gekocht und das Pferd nicht versorgt. Doch Jelka legte mir die Finger auf die Lippen und schob mich zur Leiterstiege. „Geh“, sagte sie so sanft, dass ich ihr ausnahmsweise gehorchte.
Das Gewitter war vorübergezogen. Durch das schmale Fenster unter dem Dach fiel ein Mondstrahl auf unser Strohbett. Bela schlief so tief, dass ich nicht einmal ihr Atmen hörte. Im Mondlicht sah sie mehr denn je aus wie eine schlafende Bergfee. Ihr Haar glich weder meinen kastanienbraunen Locken noch Jelkas honigschimmernden Wellen.
„Jelka ist mit ihren rosigen Wangen und den sanften Farben eine Frühlingsrose“, hatte unsere Mutter immer gesagt. „Und du, Jasna, bist mit deinem rötlichen Glanz im Haar und den braunen Augen ein leuchtendes Herbstblatt. Unsere Bela aber ist eine Wasserlilie aus einem fremden Land. Sie ist ein Geschenk aus der anderen Welt. Vielleicht haben die Vilen sie uns in die Wiege gelegt.“
Seit ich denken konnte, hatte Mutter uns Geschichten über die Feen erzählt, die in den Bergen und manchmal auch im Wasser lebten. So wie ich Bela in jener Gewitternacht sah, habe ich sie bis heute in Erinnerung – mit ihrem erstaunlich hellen Haar, das in einem geisterhaften Schein leuchtete. Sie muss eine Vila sein, die uns beschützt, dachte ich oft. Wie könnten sonst so viele Mädchen in einem einsamen Haus mitten im Gebiet des Räubers Lazar Kosac unbehelligt bleiben?
Der seltsame Feenschein um Belas Gesicht verschwand erst, als ich mir die Augen rieb. Die Wut brannte immer noch in meinen Adern, und ich fragte mich, was in Vaters Kopf vorging. Von Jahr zu Jahr wurde er mehr zu einem Fremden. Am ehesten verstand er sich noch mit Jelka, die ähnlich hart sein konnte wie er. Und Jelka erinnerte sich als Einzige von uns Schwestern noch daran, dass unsere Eltern miteinander gelacht hatten, als sie ein kleines Mädchen war. Doch mit jeder weiteren Tochter schwand die Liebe und machte einem wachsenden Jähzorn Platz. Seit Mutters Tod war Vater so unbeherrscht geworden, dass nicht einmal die ältliche Witwe Lidija aus dem Dorf in unser Haus ziehen wollte, um an seiner Seite zu leben. Und auch in dieser Nacht war ich sicher, dass er uns verfluchte. Ich verfluchte ihn ebenfalls.
Fröstelnd trat ich zum Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Von unserem Giebelfenster aus konnte ich das morsche Dach des Stalls erkennen. Jovans Pferd war dort. Das Pferd aus dem Türkenland.
Ich warf noch einen Blick auf die schlafende Bela, dann stellte ich mich auf die Zehenspitzen und zog hinter dem Dachbalken meine zusammengerollte Seilleiter hervor. Feiner Nieselregen benetzte mein Gesicht, während ich mich aus dem Fenster schwang und an der hölzernen Wand entlang langsam nach unten hangelte. Aus dem Haus drang nur schwacher Lichtschein durch die Fensterritzen nach außen. Ich duckte mich dennoch unter dem Fenster und huschte durch das nasse Gras zum Stall. Das Geräusch von aufstampfenden Hufen begleitete meine lautlosen Schritte. Als ich eintrat, sah ich den plumpen Umriss unseres Pferdes. Und ganz in der Nähe erahnte ich einen nervösen Schatten, ein zweites, weitaus lebhafteres Pferd. Jetzt war alle Wut verraucht und ich konnte es kaum erwarten, eine Kerze zu entzünden. Vater hätte mich auf der Stelle verprügelt, wenn er gewusst hätte, dass ich unter einem zerbrochenen Eimer ein Feuerzeug und einen Kerzenstumpen versteckt hatte. Ich ertastete den Flintstein und die anderen Gegenstände und setzte mich zum Feuermachen in die gemauerte Nische. Meine Hände zitterten vor Aufregung, und als der Docht endlich die Flamme angenommen hatte, wäre mir die Kerze beinahe aus den Händen gefallen.
Schwarz, unser altes Pferd, wandte den Kopf und spitzte erwartungsvoll die Ohren. Sein Fell war gelbfleckig vom Schlamm des Ackers und an den Schultern so abgeschabt vom Kummet, dass seine dunkle Haut durchschimmerte. Einst war der Gaul kohlschwarz gewesen, aber in bald sechzehn Jahren war er ausgeblichen wie ein Stück alter Stoff, das zu lange dem Regen und dem
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