Totenbuch
wir lieber über die Weiße
Grotte. Wir müssen annehmen, dass der Täter symbolische Handlungen begeht«,
sagt Benton.
»Die tieferen Schichten des
Bewusstseins«, erwidert Dr. Maroni. »Verschüttete Kindheitserinnerungen.
Unterdrückte Erinnerungen an Verletzungen und Schmerz. Vielleicht können wir
den Ausflug in die Grotte als mythologische Reise in die Geheimnisse seiner
eigenen Neurosen, Psychosen und Ängste deuten. Ihm ist etwas Schreckliches
zugestoßen. Wahrscheinlich bereits vor dem traumatischen Ereignis, das er
selbst für den Auslöser hält.«
»Was können Sie mir über sein
Aussehen verraten? Wurde er von den Zeugen, die ihn mit dem Opfer in der Disco,
in der Grotte oder anderswo beobachtet haben wollen, beschrieben?«
»Jung. Eine Mütze auf dem Kopf«,
antwortet Dr. Maroni. »Das war's.«
»Mehr nicht? Die Rasse?«
»In der Diskothek sowie in der
Grotte war es sehr dunkel.«
»In Ihrer Patientenakte, die ich
hier vor mir habe, heißt es, Ihr Patient habe eine Kanadierin in einer
Diskothek kennengelernt. Das hat er Ihnen einen Tag nach dem Auffinden der
Leiche erklärt. Anschließend hätten Sie nichts mehr von ihm gehört. Welcher
Rasse gehört der Patient an?«
»Er ist ein Weißer.«
»In Ihren Notizen steht weiter,
und ich zitiere, er hätte das Mädchen in Bari auf der Straße
zurückgelassen.«
»Damals wusste niemand, dass sie
Kanadierin war. Die Leiche war noch nicht identifiziert worden, und man hielt
sie, wie ich bereits sagte, für die einer Prostituierten.«
»Haben Sie denn keinen
Zusammenhang gesehen, als Sie erfuhren, dass es sich um eine kanadische
Touristin handelte?«
»Natürlich hatte ich gewisse
Befürchtungen, allerdings keine Beweise.«
»Schon gut, Paolo, schützen Sie
nur Ihren Patienten. Mit einer kanadischen Touristin, die sich ein bisschen zu
gut in einer Disco amüsiert und dort jemanden trifft, dem sie vertrauen zu
können glaubt, lockt man ja keinen Hund hinter dem Ofen hervor! Der Italienurlaub
der jungen Frau endet mit einer Obduktion auf irgendeinem süditalienischen
Friedhof. Sie kann von Glück reden, dass sie nicht in einem Armengrab
verscharrt wurde.«
»Sie sind sehr ungeduldig und
aufgebracht«, entgegnet Dr. Maroni.
»Da Sie nun Ihre Notizen
vorliegen haben, regt sich vielleicht etwas in Ihrem Gedächtnis, Paolo.«
»Ich kann mich nicht erinnern,
Ihnen meine Unterlagen überlassen zu haben, und frage mich deshalb, wie sie in
Ihre Hände gelangt sind.« Das hat Dr. Maroni schon mehrfach wiederholt, und
Benton bleibt nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.
»Wenn Sie Patientendaten auf dem
Krankenhausserver speichern, sollten Sie vielleicht die allgemeine
Zugriffsfunktion abschalten«, gibt er zurück. »Andernfalls hat jeder, der
herausfindet, auf welcher Festplatte diese vertraulichen Unterlagen abgelegt
sind, auch Zugang dazu.«
»Das Internet ist ein
gefährliches Pflaster.«
»Die kanadische Touristin wurde
vor einem knappen Jahr ermordet«, fährt Benton fort. »Sie wies nahezu
identische Verstümmelungen auf wie die ermordete Tennisspielerin. Können Sie
mir vielleicht erklären, warum Sie nach dem Tod von Drew Martin also nicht
sofort an diesen Fall oder an Ihren Patienten gedacht haben? Es wurden Stücke
derselben Körperpartien herausgeschnitten. Die Leiche wurde nackt an einem
öffentlichen Ort abgelegt, wo sie möglichst rasch gefunden werden würde. Und
wie damals gibt es keine Indizien.«
»Offenbar ist der Täter kein
Vergewaltiger.«
»Wir wissen nicht, was er getan
hat. Insbesondere dann nicht, wenn er seine Opfer zwingt, weiß Gott wie lang in
einer Wanne mit kaltem Wasser zu sitzen. Ich würde gern Kay in das Gespräch
miteinbeziehen und habe sie deshalb angerufen, bevor ich mich mit Ihnen in
Verbindung gesetzt habe. Hoffentlich hatte sie inzwischen Zeit, einen Blick in
die Unterlagen zu werfen.«
Dr. Maroni wartet und starrt auf
den Bildschirm. Draußen regnet es immer heftiger. Der Wasserpegel des Kanals
steigt. Als Dr. Maroni den Fensterladen einen Spalt weit öffnet, stellt er
fest, dass das Wasser auf den Gehwegen bereits fast einen halben Meter hoch
steht. Ein Glück, dass er heute nicht mehr vor die Tür muss. Im Gegensatz zu
den Touristen betrachtet er eine Überschwemmung nämlich nicht als spannendes
Abenteuer.
»Paolo?« Benton ist wieder in
der Leitung. »Kay?“
»Ich höre.«
»Sie hat die Unterlagen«, teilt
Benton Dr. Maroni mit. »Hast du die beiden Fotos vor dir?«, wendet
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