Totenbuch
alt ist wie er, auch immer einen hochkriegt. Und dann tut er dir so
etwas an.«
»Hör auf damit.«
»Nein. Was hat er gemacht? Hat
er dir die Kleider vom Leib gerissen? Wo sind sie? Das sind Beweisstücke. Wo
sind deine Sachen?«
»Hör auf, Lucy.«
»Wo sind sie? Ich will mir die
Kleider ansehen, die du getragen hast. Wo hast du sie versteckt?«
»Du machst alles nur noch
schlimmer.“
»Du hast sie weggeworfen,
richtig?“
»Gib endlich Ruhe.«
»Sexuelle Nötigung wird mit Haft
bestraft. Und falls du es Benton noch nicht erzählt hast, werde ich es tun. Du
hättest es mir tatsächlich verheimlicht! Ich musste es von Rose erfahren. Die
hat nämlich Verdacht geschöpft. Was ist los mit dir? Ich dachte, du wärst eine
starke Frau, die sich niemals geschlagen gibt. Daran habe ich mein ganzes Leben
lang geglaubt. Und jetzt habe ich dich doch bei einer Schwäche ertappt. Du lässt
dir so etwas gefallen und schweigst auch noch dazu. Warum nimmst du das einfach
so hin?«
»Darum geht es dir also.«
»Worum?«
»Das ist der springende Punkt«,
beharrt Scarpetta. »Reden wir doch mal über deine Schwächen.«
»Jetzt wälz das Problem nicht
auf mich ab.«
»Ich hätte die Polizei
verständigen können. Außerdem hatte ich seine Pistole in Griffweite und deshalb
auch die Möglichkeit, ihn umzubringen. In Notwehr. Mir standen also
verschiedene Möglichkeiten offen«, fährt Scarpetta fort.
»Und warum hast du dann nichts
getan?«
»Ich habe mich für das geringere
Übel entschieden. Das wird schon wieder. Alles andere hätte nur zu noch mehr
Schwierigkeiten geführt«, antwortet Scarpetta. »Sicher ist dir klar, warum du
so reagierst.«
»Hier geht es nicht um mich, sondern
um dich.«
»Wegen deiner Mutter, der
tragischen Figur, die meine Schwester ist. Einen Mann nach dem anderen hat sie
angeschleppt. Dass sie ohne Kerle nicht leben kann, wäre noch zu milde
ausgedrückt. Sie ist männersüchtig«, spricht Scarpetta weiter. »Erinnerst du
dich noch, wie du mich einmal gefragt hast, warum diese Männer ihr immer
wichtiger sind als du?«
Lucy ballt die Fäuste.
»Du hast mir damals gesagt, dass
der jeweilige Mann im Leben deiner Mutter stets an erster Stelle käme, und du
hattest recht. Weißt du noch, wie ich es dir erklärt habe? Weil Dorothy
innerlich leer sei. Es ginge nicht um dich, sondern um sie. Du hast das, was
sich in deinem Zuhause abgespielt hat, immer als Verletzung deiner
Persönlichkeit empfunden ...« Ihre Stimme erstirbt, und ein düsterer Ausdruck
lässt ihre Augen noch tiefblauer wirken. »Ist vielleicht noch mehr vorgefallen?
Hat sich einer ihrer Freunde je an dich herangemacht?«
»Wahrscheinlich wollte ich die
Aufmerksamkeit.«
»Was ist passiert?«
»Vergiss es.«
»Was ist passiert, Lucy?«, bohrt
Scarpetta nach.
»Vergiss es. Im Moment bin nicht ich das Thema. Außerdem war ich noch klein.
Du hingegen bist kein Kind mehr.«
»Aber ich war in einer ganz
ähnlichen Situation. Wie hätte ich mich gegen ihn wehren sollen?«
Es wird still, und die
Anspannung zwischen ihnen ist plötzlich wie weggeblasen. Lucy will nicht mehr
mit ihr streiten. Im Moment hasst sie Marino so sehr wie noch nie jemanden in
ihrem Leben, denn nur er ist schuld daran, dass sie ihre Tante so hart
angegangen hat. Ohne Rücksicht darauf, dass Scarpetta das Opfer ist, hat Lucy
sie gnadenlos in die Mangel genommen. Die Wunde, die Marino ihr zugefügt hat,
wird wohl niemals wieder vollständig heilen. Und sie, Lucy hat jetzt noch
zusätzlich Salz hineingestreut.
»Es ist so ungerecht«, sagt
Lucy. »Schade, dass ich nicht dabei war.«
»Du kannst auch nicht alle
Probleme lösen«, erwidert Scarpetta. »Wir beide haben anscheinend mehr
Gemeinsamkeiten, als du glaubst.«
»Drew Martins Trainer hat Henry
Hollings' Bestattungsinstitut besucht«, sagt Lucy weil es besser ist, nicht
weiter über Marino zu reden. »Die Adresse ist in das Navigationssystem seines
Porsche eingespeichert. Ich kann das überprüfen, falls du lieber einen Bogen
um unseren Leichenbeschauer machen möchtest.«
»Nein«, antwortet Scarpetta. »Es
ist an der Zeit, dass wir uns kennenlernen.«
Ein geschmackvoll
eingerichtetes, mit wertvollen Antiquitäten ausgestattetes Büro. Die
zurückgezogenen Damastvorhänge gestatten einen Blick auf die Außenwelt. An den
mit Mahagoni getäfelten Wänden hängen Henry Hollings' Vorfahren in Öl, eine
Galerie von Männern, die mit ernsten Mienen über die Vergangenheit wachen.
Hollings selbst hat
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