Totenbuch
eines bestimmten Kreuzfahrtschiffes sind identisch mit
den Datumsstempeln auf seinen E-Mails. Andere wiederum nicht, was meine Annahme
bestätigt, dass er sich dauerhaft in Charleston aufhält. Vielleicht wohnt er
sogar dort und verschafft sich Zugang zum Netzwerk der Hafenverwaltung, indem
er ganz in der Nähe parkt und sich einfach einloggt.«
»Jetzt kann ich Ihnen nicht mehr
folgen«, lässt sich Dr. Maroni vernehmen. »Ich bin ein altmodischer Mensch.«
Wieder zündet er seine Pfeife an, die Tätigkeit, die ihm beim Pfeiferauchen am
meisten Vergnügen bereitet.
»Das funktioniert ungefähr so,
als ob man mit einem Abhörgerät aus einem Auto heraus lauscht, während jemand
mobil telefoniert«, erklärt Benton.
»Wie ich annehme, weist Dr. Seif
jegliche Verantwortung zurück«, meint Dr. Maroni bedrückt. »Und das, obwohl der
Täter ihr seit dem vergangenen Herbst E-Mails aus Charleston schickt.
Eigentlich hätte sie doch stutzig werden und den Vorfall melden müssen.«
»Sie hätte es wenigstens Ihnen
anvertrauen können, Paolo, und zwar als sie den Sandman an Sie überwiesen hat.«
»Und sie weiß nun, dass der
Sandman sich vermutlich in Charleston aufhält?«
»Ich habe es ihr gesagt, in der
Hoffnung, sie könnte sich an damals erinnern und uns sachdienliche Hinweise
geben.«
»Und wie hat sie auf diese
Information reagiert?«
»Sie hat alles abgestritten«,
erwidert Benton, »ist in ihrer Limousine zum Flughafen gefahren und dort in
ihre Privatmaschine gestiegen.«
16
Wer Dr. Selfs Website anklickt,
hört zuerst Applaus und dann ihre Stimme.
Als Scarpetta Lucys gefälschten
offenen Brief liest, in dem ihre Nichte angeblich die Untersuchungen im McLean
Hospital und ihr Leben mit einem Gehirntumor schildert, kann sie ihre
Bestürzung nicht verhehlen. Scarpetta studiert die Blogs, bis sie es nicht mehr
erträgt. Dennoch wird Lucy den Gedanken nicht los, dass das Entsetzen ihrer
Tante noch verhältnismäßig milde ausfällt.
»Was soll ich tun? Das Kind ist
nun einmal in den Brunnen gefallen«, sagt Lucy, während sie die
sichergestellten Fingerabdrücke in den Computer einscannt. »Nicht einmal ich
bin in der Lage, Dinge rückgängig zu machen, die abgeschickt, veröffentlicht
oder gesagt wurden. Ein Vorteil ist, dass ich jetzt keine Angst mehr davor zu
haben brauche, dass ich geoutet werden könnte.«
»Geoutet. Sehr vielsagend, dass
du es so ausdrückst.«
»Dass meine Erkrankung publik
gemacht wird, trifft mich härter als alles andere, für das man mich schon geoutet
hat. Also ist es vielleicht das Beste, dass es endlich auf dem Tisch ist. So
habe ich es wenigstens hinter mir. Die Wahrheit ist eine Erleichterung. Es ist
doch gut, wenn man sich nicht länger verstecken muss, findest du nicht? Auf
diese Weise macht man viele unverhoffte positive Erfahrungen. Menschen, von
denen man nie so viel Anteilnahme erwartet hätte, wollen einem plötzlich
helfen. Andere halten endlich den Mund. Und einige Leute wird man zum Glück für
immer los.«
»Wen genau meinst du damit?“
»Sagen wir mal, es war keine
Überraschung.“
»Positive Folgen oder nicht. Dr.
Seif hatte kein Recht dazu«, protestiert Scarpetta.
»Du solltest dich mal reden
hören.« Scarpetta schweigt.
»Warum fängst du nicht gleich
an, darüber nachzugrübeln, ob dich nicht vielleicht ein Teil der Schuld trifft?
Wenn ich nicht die Nichte der berühmt-berüchtigten Dr. Scarpetta wäre, würde
kein Hahn nach mir krähen! Du stehst doch sonst immer unter dem Zwang, dir die
Probleme der ganzen Welt aufzuladen und sie lösen zu wollen«, sagt Lucy.
»Ich kann mir das nicht länger
ansehen.« Scarpetta beendet die Datei.
»Das ist nämlich dein größter
Fehler«, fügt Lucy hinzu. »Und zwar einer, mit dem ich nur schwer klarkomme,
wenn du es unbedingt wissen willst.«
»Wir müssen uns einen Anwalt nehmen,
der auf Internetkriminalität spezialisiert ist. Üble Nachrede und Verleumdung
im World Wide Web, einer gesetzlosen Welt, in der keine Regeln gelten.«
»Versuch mal zu beweisen, dass
ich den Text nicht selbst geschrieben habe. Wie willst du vor Gericht damit
durchkommen? Beschäftige dich nicht mit mir, um deinen eigenen Schwierigkeiten
aus dem Weg zu gehen. Ich habe den ganzen Vormittag lang den Mund gehalten,
aber jetzt reicht es mir. Ich ertrage es nicht mehr.«
Scarpetta fängt an aufzuräumen
und Gerätschaften in Schränken zu verstauen.
»Ich sitze da und höre zu, wie
du ganz seelenruhig mit Benton und Dr.
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